„Hört man das, ja?“
„Allerdings. Es gibt jede Menge Geschichten über euch Weiber, doch ich gestehe, dass ich die meisten davon nicht geglaubt habe, bis ich dich heute Abend kämpfen sah.“
„Ich bin keine Amazone“, erklärte Zara. „Aber wenn du mir weiterhin nachläufst wie ein räudiger Köter, der hofft, dass für ihn ein Knochen abfällt, könnte ich trotzdem zur Männermörderin werden.“
Falk riss die Augen auf. „He, du würdest doch keinem Unschuldigen ein Leid zufügen, oder?“
„Einen Unschuldigen habe ich noch nie getroffen. Und jetzt troll dich, Bursche, bevor ich die Geduld verliere.“ Ohne den jungen Mann noch eines Blickes zu würdigen, stieß sie Kjell die Hacken in die Flanken und trieb das Pferd zu einem zügigen Galopp an. Mit wehendem Mantel ritt sie unter dem Torbogen hindurch, vorbei an den neugierig gaffenden Dirnen, und ließ Falk ebenso hinter sich wie die Schenke Ascarons Ruf, um im Wirrwarr der zahlreichen Gassen des Viertels unterzutauchen.
Sie war froh, als das Licht der Laternen dunklen Schatten wich, und sofort fühlte sie sich wieder besser, auch wenn der Gedanke an ihr nagte, einen Fehler begangen zu haben.
Sie hätte sich nicht in die Sache einmischen sollen. Egal, was die anderen Glücksspieler mit dem Jungspund hatten anstellen wollen, es ging sie nichts an, ganz davon abgesehen, dass der einäugige Dickwanst und seine Kumpane im Recht waren. Falk hatte beim Spielen betrogen. Das musste Konsequenzen nach sich ziehen, und Falk konnte von Glück sagen, dass sie ihm nur die Hand abhacken wollten; es gab Gegenden in Ancaria, etwa in Krähenfels, wo man für derlei an der höchsten Burgzinne aufgehängt wurde, damit die Krähen einem die Augen auspickten. Auch wenn weder das eine noch das andere allzu erstrebenswert war, sie hätte nicht eingreifen dürfen. Wer war sie, dass sie über Recht und Unrecht entschied?
Das stand allein den Alten Göttern zu.
Dennoch, hier in Hohenmut konnte sie nicht länger bleiben. Auch wenn der Dickwanst und seine Zechkumpane nicht den Eindruck erweckt hatten, in dieser Gegend allzu beliebt zu sein, stand zu befürchten, dass sie doch irgendwo ein paar miese Schläger kannten, die ihnen noch einen Gefallen schuldig waren, und bis die Ratten aus ihren Löchern gekrochen kamen, wollte Zara unbedingt aus der Stadt verschwunden sein. Nicht, weil sie den Kampf scheute, sondern weil sie aus Erfahrung wusste, dass derart öffentliche Auseinandersetzungen zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkten – und damit auf sie –, und das konnte sie nicht riskieren. Die Gefahr, dass man sich an sie erinnerte, dass die Bürger herausfanden, was sie wirklich war, war zu groß.
Im Stillen verfluchte Zara sich selbst. Weil sie das mitleidvolle Gehabe der Schankmagd nicht einfach ignoriert hatte, war sie gezwungen, Hohenmut schon wieder den Rücken zu kehren, kaum dass sie eingetroffen war. Doch das war nun nicht mehr zu ändern, daher trieb sie Kjell in zügigem Trab durch verlassene Nebenstraßen zum Stadttor zurück. Als sie wenig später durch das Portal ritt, kauerte der Torwächter noch immer in seinem Wachhäuschen und schlief den Schlaf des Gerechten. Auch die Schausteller saßen noch immer um ihre Feuer und warfen der Reiterin neugierige Blicke zu, als sie an ihnen vorbeitrabte. Doch Zara schenkte ihnen keine Beachtung. Ihr Ziel war der Wald weiter im Südosten, jenseits des Flusses, der die Provinzen Hohenmut und Hohenwall als natürliche Grenze voneinander trennte. Im Grunde war es nicht von Bedeutung, in welche Richtung sie sich wandte, da sie nirgends von jemandem erwartet wurde und es keinen Ort in ganz Ancaria gab, den sie ihr Zuhause nannte. Sie war wie ein Blatt, das sich vom Wind hierhin und dorthin tragen ließ, ohne Ziel, eine Wanderin zwischen den Welten, die das Einzige, was sie in Ancaria suchte, auch nach all den Jahren noch nicht gefunden hatte ...
Vergebung.
Wahrscheinlich würde sie die auch nie finden, doch sie hatte sich geschworen, danach zu suchen, solange sie auf Ancarias Boden wandelte, und das würde sie auch tun. Mit diesem Gedanken fasste sie die Zügel fester, beugte sich nach vorn und schnalzte kurz mit der Zunge. Kjell ging vom Trab ohne nennenswerten Übergang in einen gestreckten Galopp über und preschte den Weg zwischen den abgeernteten Getreidefeldern entlang. Erde und Gras stoben unter den hämmernden Hufen des Pferdes auf, als Zara mit wild um ihren Kopf flatterndem Haar nach Osten ritt. Ein leichter Nieselregen setzte ein und traf Zara wie mit eisigen Nadelstichen ins Gesicht, doch sie achtete nicht darauf und jagte unter dem düsteren wolkenverhangenen Firmament dahin, immer am Waldrand entlang nach Osten. Sie trieb Kjell in rasantem Galopp über die Felder und Wiesen. Nach einer Weile blieben die Mauern, Türme und Zinnen von Burg Hohenmut hinter ihr in der Dunkelheit zurück.
Kjell preschte durch die Nacht wie ein Schatten innerhalb von Schatten, ein dunkler Schemen vor dem Hintergrund des Waldes. Weißer Atem drang aus den Nüstern des Tiers wie Rauch aus den Nasenlöchern eines Drachen. Zara passte sich dem Rhythmus des Pferdes an und ließ sich durch die Nacht tragen, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, um dem eisigen Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Links und rechts von ihr huschten Bäume, Sträucher, Zäune und Schuppen vorbei, doch schon bald wurden die Zeugnisse der Zivilisation spärlicher, und als sie beim ersten blassen Licht des neuen Tages die breite rote Steinbrücke überquerte, die über den Fluss führte, hatte sie Hohenmut und alles, was damit zusammenhing, schon beinahe aus ihrem Gedächtnis verbannt.
Gleich jenseits der Brücke begann der Dunkelforst, ein gewaltiger, von riesigen Nadelbäumen beherrschter Wald, der sich im Westen bis zur Einöde von Shaddar-Nur und im Osten bis weit hinter die äußersten Grenzen des Königreichs erstreckte. Hier und da ragten bewachsene Hügel und Berge aus dem Grün der Baumwipfel, und im allmählich zunehmenden Schein der Morgensonne stieg Nebel auf. Damals, als Zara noch ein Kind gewesen war – vor so langer Zeit, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte –, hatte ihre Großmutter ihr immer erzählt, dass der Dunst, der vom Wald aufstieg, wenn es wärmer wurde, von den Kochtöpfen der Hexen stammte, die tief in den Wäldern wohnten. Heute konnte sie über diese Vorstellung nur müde grinsen, doch damals, als die Welt aus kaum mehr als dem elterlichen Anwesen bestand und sie Krieg und Armut nur aus den Erzählungen ihres Vaters kannte, hatte sie der Gedanke schier zu Tode geängstigt.
Doch auch wenn sie über solche Ammenmärchen mittlerweile hinaus war, war der Dunkelforst alles andere als ein ungefährliches Fleckchen Erde. Große Teile davon gehörten zu den Dunklen Gebieten, einer der trostlosesten und menschenfeindlichsten Gegenden Ancarias, seit jeher ein Quell unheimlicher Gerüchte. Das hing zum einen damit zusammen, dass im Nordosten das Gebiet der Dunkelelfen an die Dunklen Gebiete angrenzte, und zum anderen hatte es damit zu tun, dass die dichten, dunklen Wälder so weitläufig waren, dass in ihnen alles Mögliche lauern konnte. Hinzu kam noch, dass es hier außer Wäldern und Sümpfen nichts gab, das dem Gebiet nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung verliehen hätte. Noch vor gut dreihundert Jahren war das anders; damals kam den seinerzeit neu gegründeten Siedlungen Torffingen und Finsterwinkel durch den Torfabbau zur Bau- und Brennstoffgewinnung große wirtschaftliche Bedeutung zu, doch später hatten die stetig zunehmende wirtschaftliche Macht des Hauses Mascarell und die Einführung neuer Holzbaustoffe aus den Gebieten Mascarell und DeMordrey der Provinz zunehmend ihre Bedeutung geraubt. Heute waren die Dunklen Gebiete allenfalls noch für den Moorbrucher Whiskey bekannt, der durch die Destillation mit Moorwasser seine besondere Würze erhielt.
Sobald sie die Brücke hinter sich hatte, ging Zara in einen leichten Trab über und trottete gemächlich auf den Wald zu. An einer Stelle hatten verkrüppelte, ineinander verwachsene Kiefern im Laufe der Jahrhunderte einen bogenförmigen Durchgang geschaffen, der beinahe wie ein Tor in eine andere Welt wirkte. Dort führte der Pfad in den Forst, um schon nach wenigen Metern hinter einer Biegung zu verschwinden. Laub bedeckte den Boden wie ein natürlicher Teppich, um die Hufschläge des Pferdes nahezu gänzlich zu verschlucken. Über dem Blätterdach stieg die Morgensonne zunehmend höher, doch unter dem dichten Baldachin der Bäume, der nur hier und da von vereinzelten Strahlen durchdrungen wurde, herrschte ewiges Zwielicht, während sich links und rechts des Weges dicht an dicht Büsche und Sträucher drängten, sodass der Pfad eine Art natürlichen Tunnel durch den Wald bildete. Fast konnte man den Eindruck haben, durch einen Wandelgang im Park zu reiten und nicht durch einen Wald.