Zara ritt auf Kjells starkem Rücken den Pfad entlang, sog die nach Laub, Kiefernnadeln und Baumharz duftende Luft tief in ihre Lungen und genoss nun die Stille und Einsamkeit des Waldes. Auch wenn sie gern noch länger in der Stadt geblieben wäre, so fühlte sie sich der Natur doch weit stärker verbunden als dem, was sich Zivilisation schimpfte. Hier draußen war es belanglos, welches Amt man innehatte, aus was für einer Familie man stammte oder was man aus seinem Leben gemacht hatte. In den Augen von Mutter Natur waren alle Lebewesen gleich, und irgendwie fand Zara diesen Gedanken tröstlich.
Hier und da tropfte Wasser vom dichten Blätterdach auf den Weg, doch obwohl das stete Trommeln hoch über ihrem Kopf verriet, dass der Regen zugenommen hatte und der Himmel bittere Tränen weinte, war der mit einem dichten Teppich aus Laub und Tannennadeln bedeckte Waldboden so trocken, als hätte seit Jahrzehnten kein Wassertropfen mehr die Erde des Pfades benetzt. Unwillkürlich kam Zara der steinerne Boden der Schenke in den Sinn, auf den das Blut von der Hand des Einäugigen getropft war wie roter Regen, und sie spürte, wie sie jene verderbliche Erregung überkam, die mit dem Roten Durst einherging. Wie hypnotisiert hatte sie das tropfende Blut angestarrt, und einen grausamen Moment lang war sie versucht gewesen, den Roten Durst einfach die Oberhand gewinnen zu lassen, wie es in alten Tagen so oft geschehen war. Doch dann hatte sie sich von dem Anblick losgerissen und war geflohen. Hätte sie ihm nachgegeben, hätte niemand außer ihr Ascarons Ruf lebend wieder verlassen. Nicht einmal der Kater Timbro ...
V.
Zara war dem Pfad bereits eine gute Stunde hinein in den Dunkelforst gefolgt, als sie hinter sich unvermittelt gedämpftes Hufgetrappel vernahm, erst leise, dann immer lauter werdend. Doch obwohl der Wald berüchtigt dafür war, ein Zufluchtsort für Ausgestoßene und Banditen zu sein, die sich in den unüberschaubaren Wäldern vor dem Gesetz verborgen hielten, warf Zara keinen Blick zurück, um zu sehen, wer ihr folgte. Sie wusste auch so, dass es der Jungspund aus der Taverne war. Der Kerl ritt mit dem Wind, und der Geruch nach Schweiß und fauligem Stroh, den sie bereits in der Nacht vor der Taverne wahrgenommen hatte, wehte ihm voraus wie ein Banner. Ohne sich umzudrehen, ritt sie weiter, während Falk aufschloss und sich schließlich neben sie gesellte. Er saß auf einem grauen Wallach, dessen Flanken im Zwielicht des Waldes vor Schweiß glänzten. Wie es schien, hatte Falk dem Pferd einiges abverlangt.
„Da konnte es wohl jemand kaum erwarten, aus Hohenmut zu verduften“, sagte Zara, ohne Falk anzusehen. Sie hielt die Zügel mit einer Hand, den Blick vor sich auf den Weg gerichtet.
„Das könnte man ebenso von dir sagen“, erwiderte Falk und schenkte ihr von der Seite her ein breites Grinsen. „Du bist geritten, als wäre eine Horde Dunkelelfen hinter dir her. Der gute Sasha ist ganz erschöpft. Ein Wunder, dass er es überhaupt bis hierher geschafft hat.“
„Ein Wunder vielleicht“, murmelte Zara, „aber kein gutes.“
„Übrigens“, sagte der Jungspund und tat so, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört, „gestatte, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Falk. Und wie ist deiner?“
Sie sah den jungen Mann kühl an. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
Falk ließ sich nicht beirren. „Tja, ich dachte nur, es wäre nett, zu wissen, wie ich dich anreden soll, jetzt, da wir miteinander reiten.“
Zara runzelte die Stirn. „Wie meinen?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben, doch Falk nickte nachdrücklich.
„Ich werde mit dir kommen“, erklärte er. „Weißt du, ich glaube an Karma, und ich bin überzeugt, dass es kein Zufall war, dass wir uns getroffen haben. Die Alten Götter haben uns zusammengebracht, damit wir fortan Seite an Seite reiten und unser Leben teilen wie Brüder.“ Er warf beiläufig einen Blick auf Zaras frauliche Rundungen, die sich deutlich unter ihrem Umhang abzeichneten. „Oder meinetwegen auch wie Bruder und Schwester.“
Zara sah Falk an und suchte in seinem Gesicht nach Hinweisen darauf, dass er ihr einen Bären aufbinden wollte. „Warum willst du mit mir kommen?“, fragte sie schließlich.
„In Hohenmut kann ich nicht bleiben“, sagte Falk. „Der einäugige Dicke und seine Kumpane werden diese Schmach mit Gewissheit nicht auf sich sitzen lassen, und wenn sie mich in die Finger kriegen ...“ Er vollführte mit dem Zeigefinger eine Geste, als würde er sich die Kehle durchschneiden. „Dort ist es für mich zu gefährlich.“
„Die Welt dort draußen ist noch gefährlicher“, sagte Zara.
„Durchaus“, stimmte Falk zu, „aber nicht, wenn ich an deiner Seite bin.“
Zara warf ihm einen abschätzigen Blick zu, den Falk mit einem treudoofen Dackelblick erwiderte. Sie schüttelte müde den Kopf. „Wenn du nicht beim Spielen betrogen hättest, würdest du jetzt nicht in dieser Klemme stecken. Warum versuchst du es zur Abwechslung nicht mal mit ehrlicher Arbeit?“
„Ehrliche Arbeit?“ Falk verzog das Gesicht. „Ehrliche Arbeit ... das ist nur eine andere Bezeichnung für elende Plackerei, und davon hatte ich in meinem Leben schon mehr als genug.“
Zara warf beiläufig einen Blick auf Falks glatte, langfingrige Hände, die keinerlei Schwielen oder Vernarbungen aufwiesen. „Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag ehrlich gearbeitet“, erklärte Zara.
„Vielleicht nicht körperlich“, stimmte Falk zu. „Aber ich habe mehr als einmal darüber nachgegrübelt, und allein das war so kräftezehrend, dass es mir am Ende so vorkam, als hätte ich Tag und Nacht in einem fort geknechtet.“
Zara seufzte. „Nie um eine Ausrede verlegen, was?“
Falk grinste. „Wenn das so wäre, wäre ich längst tot.“ Er griff in seine linke Satteltasche und holte eine flache braune Flasche daraus hervor. Nachdem er mit den Zähnen den Korken aus dem Flaschenhals gezogen hatte, nahm er einen tiefen Schluck. Er setzte die Flasche ab, verzog ob des Brennens, das sich den Weg durch seine Eingeweide bahnte, das Gesicht und hielt Zara die Flasche hin. „Na, auch ein Schlückchen?“
Zara schüttelte den Kopf.
„Du hältst nicht viel von Menschen, hm?“, wollte er wissen.
Zara schwieg.
„Also, da geht’s dir so wie mir. Ich habe auch nicht viel für unsereins übrig“, plapperte Falk vor sich hin und genehmigte sich einen weiteren Schluck. „Menschen sind verlogen, arrogant, hinterhältig, falsch und raffgierig. Ganz anders als Tiere. Tiere töten nicht aus Habgier, sondern aus Notwehr oder um zu fressen, und sie verstellen sich nicht, um sich als etwas darzustellen, was sie nicht sind, oder um jemandem Zuneigung vorzuheucheln, den sie eigentlich nicht leiden können. Nicht umsonst sagt man, Tiere seien die besseren Menschen.“ Falk warf Zara einen fragenden Blick zu. „Was sagst du dazu?“
Zara funkelte ihn an. „Ich sage, du tätest gut daran, auf der Stelle kehrtzumachen und mich nicht weiter zu belästigen! Was auch immer mich in diese Schenke geführt hat, mit Karma hatte es nichts zu tun. Und jetzt troll dich und fall jemand anderem auf die Nerven!“
Falk setzte bereits zu einer Erwiderung an, doch Zara hob ruckartig den Zeigefinger und brachte ihn mit dieser Geste abrupt zum Schweigen. „Ich warne dich, Bürschchen: Allmählich beginne ich zu glauben, dass es ein Fehler war, dich vor dem Dickwanst und seinen Kumpanen bewahrt zu haben. Doch das ist ein Fehler, der sich leicht korrigieren lässt.“ Mit diesen Worten schloss sie die Finger demonstrativ um den Griff eines ihrer Schwerter; um bequemer reiten zu können, hatte sie beide Waffengurte abgeschnallt und am Sattel befestigt.