„Das war eigentlich deine Aufgabe“, zischte Zara zornig. „Du hättest dem Tier diese Gnade erweisen müssen. Es war dein Pferd.“ Sie humpelte an Falk vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und sagte im Weggehen: „Vielleicht überlegst du es dir beim nächsten Mal zweimal, ob du wirklich den Helden spielen willst.“
Falk sah ihr betreten nach.
Zara blieb neben dem Halunken stehen, der dem jungen Mann zu Beginn des Gemetzels den Todesstoß versetzen wollte. Schwerfällig beugte sie sich über ihn, drehte den Mann auf den Rücken und riss ihm den Lederbeutel vom Gürtel, ehe sie zu dem Burschen hinüberhumpelte, der noch immer mit dem Rücken gegen den Stamm einer Kiefer lehnte. Zara kniete schwerfällig vor dem Mann nieder und betrachtete ausdruckslos sein zerschlagenes Gesicht.
„Keine Angst“, sagte Zara, während sie ihm den Beutel mit dem Gold in die Hand drückte. „Es ist vorbei.“
Der junge Mann umklammerte den Beutel mit aller Kraft, wie ein heiliges Relikt, das ihm die Erlösung bringen würde. Zara stellte fest, dass er tatsächlich höchstens zwanzig Lenze zählte, ein fescher junger Bursche mit grünen Augen, einer geschwungenen Aristokratennase und schulterlangem blondem Haar. Vermutlich gab es in dem Ort, aus dem er stammte, jede Menge junge Mädchen, die sich nach ihm verzehrten. Sein Gesicht zeigte jetzt zwar üble Schwellungen, und die Unterlippe war aufgeplatzt, doch seine Verletzungen würden schnell verheilen.
Obwohl er am Ende seiner Kräfte war, nickte er Zara kurz zu und murmelte mit schwacher Stimme: „Danke ...“
Zara sah ihm noch einen Moment lang tief in die Augen. Schließlich richtete sie sich mit einem Ruck auf und pfiff nach Kjell, der sofort herbeigetrottet kam und auffordernd wieherte. Zara packte den jungen Mann, um ihn mit einer Leichtigkeit, die man ihr selbst ohne ihre Verletzungen nicht zugetraut hätte, über den breiten Rücken des Pferdes zu wuchten. Der Bursche keuchte schmerzerfüllt, ließ es jedoch geschehen. Als er quer über dem Rücken des Pferdes lag, fasste Zara nach den Zügeln und führte Kjell humpelnd den Weg hinab. Falk starrte ihr nach und fragte sich, woher, um alles in der Welt, diese seltsame Frau die Kraft nahm, sich noch aufrecht zu halten. Etwas an Zara flößte ihm Angst ein, doch da war auch eine verhaltene Neugierde in ihm, die zu wissen verlangte, was es mit dieser sonderbaren Frau aus der Fremde auf sich hatte. Nach einem letzten traurigen Blick auf Sasha fasste er sein Bündel fester und folgte Zara.
VII.
Zara fand das Lager der Räuberbande schneller, als sie zu hoffen gewagt hatte. Es lag nicht weit von jener Stelle entfernt, wo sie dem jungen Mann auf dem Pfad aufgelauert hatten, auf einer kleinen Lichtung inmitten der üppig wuchernden Vegetation. Unter einem provisorischen Unterstand aus Ästen und Zeltplane lagen Proviant, Kleidung, Waffen und die Hinterlassenschaften ihrer Opfer, und neben der Feuerstelle in der Mitte der Lichtung thronte ein Fass Met. Fünf Pferde waren an die Bäume gebunden und schnaubten nervös, als Zara Kjell durch die Büsche auf die Lichtung führte. Sie brachte das Tier neben dem erloschenen Feuer zum Stehen und hob den verletzten Jungen behutsam vom Pferd, um ihn unter dem Unterstand auf eine Decke zu betten. Sie war froh, dass sie mit ihrer Annahme, dass die Wegelagerer hier irgendwo im Nirgendwo ein Quartier haben mussten, Recht gehabt hatte, denn sie hoffte, dass sie hier das eine oder andere finden würde, um ihre eigenen Wunden und die des jungen Mannes zu versorgen.
Zara ging langsam neben dem jungen Mann in die Knie, griff nach einer Wasserflasche, die an einem der Haltepfosten an einem Nagel baumelte, und begann schweigend, das von Blut und Dreck schmutzige Gesicht des Überfallenen zu reinigen. Es zeigte sich, dass die Verletzungen wirklich nicht allzu schlimm waren. Die Abschürfungen würden heilen, die Blutergüsse und Schwellungen abklingen. Auch an der Brust hatte er einiges abgekriegt, doch zum Glück war nichts gebrochen.
Nachdem sie sich einen Eindruck von den Verletzungen des jungen Mannes verscharrt hatte, machte sie sich in der Nähe des Lagers auf die Suche nach verschiedenen Pflanzen und Kräutern, die sie zur Behandlung brauchte. Glücklicherweise musste sie nicht lange suchen, bis sie eine Eiche entdeckte, aus deren Stamm sie einige Stücke Rinde schnitt, und auch den Bockshornklee und die Kamille fand sie schnell. Sie kehrte ins Lager zurück, griff nach einer Decke, riss sie in längliche Streifen, legte die Heilkräuter auf den Brustkorb des Mannes und begann, ihn zu verbinden. Jedes Mal, wenn Zara seine Brust berührte, zuckte der Junge mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, denn auch dort hatte er einige Blutergüsse, doch er sagte nichts und ließ Zara gewähren. Als Zara schließlich fertig war und sich abwandte, um hinüber zum Lagerfeuer zu gehen, griff er nach Zaras Hand.
Zara drehte sich fragend um.
„Mein Name ist Jahn“, erklärte der Bursche. „Und wer bist du?“
„Zara“, sagte sie knapp, bevor sie Jahn allein ließ. Sie legte mehrere Äste und Zweige, die die Wegelagerer neben der Feuerstelle aufgeschichtet hatten, auf die Asche und holte den Feuerstein aus ihrer Tasche. Inzwischen hatte auch Falk den Weg in das Lager gefunden, doch er hielt sich im Hintergrund, und Zara schenkte ihm keine Beachtung, als sie sich daran machte, das Feuer zu entfachen. Als schließlich die Flammen prasselten, durchsuchte sie die in mehreren Beuteln und Kisten verstauten Habseligkeiten der Wegelagerer. Außer Kleidung, Münzen, gepökeltem Fleisch, Brot, Wasser, einer Flasche Weizenschnaps und einem Paar Stiefel fand sie auch einen Dolch.
Sie zog das Messer aus der Scheide und betrachtete die schlanke, scharfe Klinge einen Moment lang nachdenklich, bevor sie damit zum Feuer zurückkehrte und die Schneide tief in die rote Glut schob. Dann ließ sie sich am Rande des Feuers nieder, entkorkte den Tonkrug mit dem Schnaps und setzte die Öffnung an die Lippen, um einen kräftigen Schluck zu nehmen.
Zara spürte, wie der Alkohol ihre Speiseröhre hinabkroch und in ihrem Magen ein unangenehmes Brennen entfachte, das jedoch half, die pochenden Schmerzen zu verdrängen, die in ihrem Oberschenkel und ihrer Seite wüteten. Auch wenn sie gelernt hatte, Schmerzen als etwas ganz Natürliches hinzunehmen, empfand sie sie doch. Zara nahm Schmerzen zwar anders wahr als normale Menschen, das bedeutete jedoch nicht, dass sie für sie angenehm waren. Ganz im Gegenteil. So nahm sie einen weiteren tiefen Zug von dem scharfen Schnapfes und schüttelte sich, als der Alkohol allmählich ihre Sinne zu vernebeln begann und sich eine angenehme Schwere ihrer Glieder bemächtigte. Erst dann stellte sie den halb leeren Krug zur Seite, riss mit einem Ruck die Naht ihrer Hosen auf und enthüllte ihren Oberschenkel.
Der abgebrochene Pfeil steckte mindestens drei Fingerbreit in ihrem Fleisch. Die Wunde war nicht sehr groß und hatte auch kaum geblutet, doch die Pfeilspitze musste raus. Entschlossen griff sie nach dem Messer und zog es aus der Glut des Feuers.
Die Spitze der Klinge glomm in tiefem Rot; Rauch stieg davon auf. Zaras Rechte schloss sich fester um den Griff, indes sich die Finger der Linken um das abgebrochene Ende des Pfeils krampften. Zögernd richtete sie die Messerspitze auf die Wunde. Die Hitze, die von dem glühenden Eisen ausging, wärmte die Haut ihres verletzten Oberschenkels.
Die Spitze des Dolchs verharrte wenige Zentimeter über der Pfeilwunde. Kalter Schweiß rann Zara übers Gesicht. Zwar war sie schon des Öfteren von Pfeilen getroffen worden, einmal sogar gefährlich nahe im Bereich des Herzens, doch bislang war sie nie gezwungen gewesen, die Spitzen allein zu entfernen. Sie konnte bloß hoffen, dass die Pfeile keine Widerhaken hatten.
Dieser Gedanke ließ sie einen Augenblick lang zögern. Dann gab sie sich einen Ruck, atmete tief durch – und senkte die rot glühende Klinge, um die Pfeilwunde durch einen raschen Schnitt zu vergrößern.
Der Schmerz war gewaltig, eine Explosion aus Qual, die durch ihren gesamten Körper toste und sie aufstöhnen ließ. Sie führte den Schnitt mit zusammengebissenen Zähnen zu Ende, zog das Messer zurück und riss mit der Linken ruckartig an dem Pfeil, um ihn herauszuziehen. Wenn er tatsächlich Widerhaken hatte, war das der kritische Moment, der über Wohl und Wehe entschied, doch die dreieckige Eisenspitze ließ sich ohne Schwierigkeiten aus ihrem Schenkel ziehen. Gleichwohl, diesmal war die Pein so gewaltig, dass Zara die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht laut zu schreien.