Zara bedachte Falk mit einem Blick, der Falk durch Mark und Bein ging; es war, als würde die Schwertkämpferin bis in die Tiefen seiner Seele schauen, auf all die Sünden und Geheimnisse, die er mit sich herumtrug. Dann jedoch seufzte Zara. „Nun, gut. Du kannst mit mir reiten, wenn du willst. Doch ich warne dich: Stell keine Fragen und komm mir nicht in die Quere, sonst bist du einen Kopf kürzer.“
Falks Mundwinkel schnellten nach oben. „Ich wusste doch, dass du ein Herz hast! Jemand, der böse Buben hasst, kann nicht ganz schlecht sein.“ Er sah grinsend zu Jahn. „Ich hoffe, ihr habt bei euch in Moorbruch ordentlich Whiskey eingelagert, denn wenn wir erst mal dort sind, wird es nicht lange dauern, bis es was zu feiern gibt. Wir werden diese Bestie erlegen und sie am Schwanz durch den Ort schleifen, bevor die Woche um ist. Nicht wahr, Zara?“
Doch Zara schwieg. Schon jetzt bereute sie ihre Entscheidung, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Doch sie hatte Jahn ihr Wort gegeben, ihn nach Moorbruch zu begleiten. Da war kein anderer Ort, zu dem es sie ansonsten hinzog, da war niemanden, der irgendwo auf sie wartete. Also war Moorbruch so gut wie jeder andere Ort in Ancaria; nein, sogar besser, denn dort erwartete sie zumindest eine Aufgabe.
Eine Aufgabe ... das war mehr, als sie seit Jahren gehabt hatte, als sie ziellos durch die Lande geirrt war, eine rastlose Wanderin auf der Suche nach etwas, von dem sie nicht einmal genau wusste, was es eigentlich war. Vielleicht hatte das den Ausschlag dafür gegeben, dass sie zugestimmt hatte, Jahn nach Moorbruch zu begleiten – endlich wieder eine Aufgabe zu haben.
Aber tief in ihr gab es noch einen anderen Grund. Einen Grund, den sie sich selbst kaum eingestand.
Es lag lange zurück, dass sie zum letzten Mal einen Menschen getroffen hatte, der Hoffnung und Vertrauen in sie setzte.
Und dass jemand das Gute in ihr sah ...
IX.
Über dem dichten Dach des Waldes streckte die Morgendämmerung ihre ersten zartrosa Finger nach dem Horizont aus, als Falk, Jahn und Zara alles zusammenrafften, was sie im Lager der Wegelagerer an Brauchbarem fanden, sich auf die Pferde schwangen und dem Pfad durch den Wald weiter nach Südosten folgten. Während Zara auf Kjell vorausritt, saßen Falk und Jahn auf zwei Pferden der Wegelagerer; die restlichen Gäule der Banditen führte Falk an einer langen Leine mit sich, die er hinten an seinem Sattel festgebunden hatte. Zara hatte vorgehabt, die Gäule freizulassen, doch Falk vertrat die Ansicht, man wisse nie, wozu drei zusätzliche Reittiere gut sein mochten. Zara nahm an, dass er versuchen würde, die Pferde unterwegs zu Gold zu machen, doch das war seine Sache; solange er sich um die Pferde kümmerte und sie damit nicht behelligte, konnte er ihretwegen einen Pferdehandel aufmachen.
Nach ihrem Gespräch gestern Abend, als Zara sich bereit erklärt hatte, Jahn nach Moorbruch zu begleiten, hatte keiner von ihnen mehr viel gesprochen. Sie hatten schweigend die Schnepfe verzehrt und zugesehen, wie die Nacht immer näher an das Lagerfeuer herangerückt war. Auch jetzt verloren sie keine großen Worte, als sie in aller Herrgottsfrühe die Reise nach Moorbruch antraten. Zaras Wunden taten nicht mehr weh, und auch Jahn hielt sich wacker.
Während sie auf dem Pfad dahinritten, stieg die Sonne langsam höher, und hier und da fielen senkrechte Lichtbalken durch das Blätterdach und zauberten verschlungene Muster auf den Pfad. Leichter Bodennebel waberte, der bei jedem Schritt der Pferde verwirbelte wie Rauch. Selbst die Tiere des Waldes verhielten sich ruhig, und nur von Zeit zu Zeit sah Zara aus dem Augenwinkel, wie ein Eichhörnchen mit aufgestelltem rotem Schwanz einen Baumstamm hinauflief.
Bis zur Mittagszeit trabten sie schweigend dahin; dann ritt Falk nach vorn, schloss zu Zara auf und sagte: „Nun, was meinst du? Sollten wir nicht eine Rast einlegen, um den Pferden eine Verschnaufpause zu gönnen und uns zu stärken?“
Zara warf ihm einen Seitenblick zu. „Wenn du essen willst, iss.“ Sie griff in ihren Beutel und warf ihm und anschließend auch Jahn je ein Stück Brot zu. Jahn fing es geschickt auf und nickte ihr dankbar zu. Gemächlich kauend, eine Hand am Zügel, trabte er auf einem gescheckten Braunen schräg hinter Zara her, bis sich Falk, ebenfalls kauend, neben ihn zurückfallen ließ. Falk schluckte den letzten Bissen Brot hinunter und meinte: „Also, Jahn, jetzt, wo wir unterwegs nach Moorbruch sind, wie sieht es da mit Einzelheiten über die Bestie aus? Ich meine, was weiß man über das Untier?“
„Zumindest, dass es bislang zehn Menschen zerrissen hat“, antwortete Jahn düster, während er wieder mit beiden Händen die Zügel ergriff.
Zara wandte überrascht den Kopf. „Zehn!“
Jahn nickte. „Alles junge Frauen aus Moorbruch und Umgebung“, bestätigte er. „Die älteste zählte einundzwanzig Lenze, die jüngste gerade vierzehn. Das erste Opfer hieß Svenja und verdingte sich als Torfstecherin. Eines Abends ging sie noch einmal ins Moor, um Torf fürs Feuer zu stechen, und kehrte nicht wieder heim. Ihre Familie machte sich große Sorgen, und eine Suchmannschaft durchkämmte in dieser Nacht mit Fackeln und Hunden das umliegende Moor, doch ohne Erfolg. Wir fanden sie erst am nächsten Morgen, steifgefroren und beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.“ Er verstummte, und seine Mundwinkel zuckten, als er daran dachte. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln und fortzufahren. „Zuerst waren die Einwohner von Moorbruch der Ansicht, ein tollwütiger Wolf habe das Mädchen angefallen, doch seit jenem Tag hat die Bestie alle zwei bis drei Tage ein neues Opfer gefunden, meistens in den Zeiten der Dämmerung. Ich kannte jede von ihnen. Mit zweien habe ich noch am Tag ihres Todes gesprochen, und eine brachte mir nur Stunden vor ihrem Tod noch ein Glas Gurken vorbei. Ihr Name war Katie; ein liebes, unbeschwertes Ding, das nie jemandem etwas getan hat. Sie hat mir immer erzählt, dass sie eines Tages aus Moorbruch fortgehen würde, um als Zofe am Hof des Königs zu dienen. Stattdessen wurde sie ein Opfer dieser grausamen Bestie.“ Er seufzte. „Wer weiß, wen sich das Ungeheuer noch geholt hat in der Zeit meiner Abwesenheit.“ Er verstummte, und sein Blick schweifte sorgenvoll in die Ferne, als er an jene Lieben dachte, die er daheim zurückgelassen hatte.
Zara überließ Jahn einen Moment seinen düsteren Gedanken. Dann sagte sie: „Diese Frauen ... Hatten sie noch mehr gemeinsam als ihr Geschlecht und ihre Jugend?“
Jahn nickte düster. „Die Bestie hat allen das Herz aus dem Leib gerissen.“
„Und hat man die Herzen bei den Opfern gefunden?“
Jahn schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Zehn Opfer“, murmelte Zara. „Alles junge Frauen, denen das Herz herausgerissen wurde ... Das klingt nicht gerade nach einem Tier. Die wenigsten Tiere greifen Menschen an, und dann auch noch grundlos, und auch wenn jedes Tier eine bestimmte Beute bevorzugt, dann sind die Gemeinsamkeiten keineswegs so offensichtlich wie in diesem Fall.“ Sie sah Jahn an. „Woher wisst ihr überhaupt, dass ihr es mit einem Tier zu tun habt?“
„Ein paar Menschen haben die Bestie gesehen“, erklärte Jahn. „Einmal ist ein Jäger dazugekommen, als das Untier gerade sein Opfer zerfleischte, und obwohl die Bestie ein gutes Stück weit weg war und geflohen ist, konnte er sie im Mondlicht gut erkennen. Er sagte, die Bestie sei fast so groß wie ein Mann, mit einem wuchtigen Schädel, riesigen Klauen und einem gewaltigen Maul voller langer, scharfer Zähne. Und die Augen der Kreatur glühten in der Dunkelheit wie Kohlengruben. Der Jäger sagte, dass er noch nie einen so riesigen Wolf gesehen hat, doch andere sind der Meinung, dass es etwas anderes sein muss als ein Wolf, etwas, das uns noch nie untergekommen ist, eine Kreatur, so bösartig, gemein und brutal, dass dagegen selbst der schlimmste tollwütige Wolf ein treues Hündchen ist. Selbst die Alten können sich an nichts erinnern, das mit dem Wüten der Bestie vergleichbar wäre.“ Er hob das letzte Stück Brot zum Mund, doch bevor er es sich zwischen die Zähne steckte, überlegte er es sich anders und ließ es stattdessen in seinem Beutel verschwinden; offenbar war ihm der Appetit bei seinen eigenen Ausführungen vergangen.