Svenja wurde von ihren trübsinnigen Gedanken abgelenkt, als sie aus dem Unterholz erneut ein Geräusch vernahm. Es klang wie ein Rascheln oder Schleifen, als würde sich etwas Großes durch das Wirrwarr aus Nesselsträuchern, Feuchtgras und großblättrigen Sumpffarnen bewegen. Obwohl sie sich einzureden versuchte, dass es hier nichts gab, wovor sie Angst haben musste, hatte sie sofort wieder das Bild des Dunkelelfen-Babys vor sich, das sie voller Gier anstarrte und den Mund zu einem diabolischen Grinsen verzog – ein Grinsen, das zu sagen schien: Ich weiß, dass du dich vor mir fürchtest – und du tust gut daran!
Svenja warf instinktiv einen Blick über die Schulter, doch im Zwielicht der Abenddämmerung, die die Welt in lange Schatten tauchte, war links und rechts des Trampelpfads nichts zu sehen. Und trotzdem bohrte sich der Stachel der Unruhe tief in Svenjas Seele.
„Mach dich nicht lächerlich, Mädchen“, murmelte sie, in der Hoffnung, der Klang ihrer eigenen Stimme würde ihr Mut spenden, doch das ängstliche Zittern in ihren Worten bewirkte eher das Gegenteil. „Es gibt hier weder Dunkelelfen noch irgendetwas anderes, vor dem man sich ängstigen müsste. Sieh nur zu, dass du schleunigst nach Hause ins Warme kommst, bevor du hier draußen erfrierst!“
Mit weit ausholenden Schritten eilte Svenja den Pfad entlang. Der Mond, der in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit hoch droben am Firmament hing, zauberte ein verschlungenes Muster aus Licht und Schatten auf den ausgetretenen Weg. Die kahlen Zweige der Krüppelkiefern wiegten sich lautlos in einer eisigen Brise, nichts rührte sich, und auch sonst lastete eine unnatürliche Stille über dem Moor – die jäh unterbrochen wurde, als plötzlich ein Schwärm Krähen, die in der verfilzten Krone einer alten Kastanie ihre Nester hatten, lauthals schimpfend von dem Baum aufstob und als wild flatternde schwarze Wolke vor der Dämmerung aufstieg.
Svenja zuckte erschrocken zusammen. Irgendetwas musste die Vögel aufgescheucht haben. Sie redete sich ein, dass sie selbst es gewesen war, doch dann mischte sich auf einmal ein anderes Geräusch unter das verärgerte Schnattern der Krähen, ein dumpfes, gutturales Grollen, und schlagartig wurde Svenja klar, dass es sehr wohl Grund zur Sorge gab. Denn was auch immer dort durchs Dickicht schlich und dieses Grollen und Rascheln verursachte, war mit Sicherheit kein Rattenbiber und auch kein Moorwaran; diese Tiere verursachten nicht solchen Lärm, sondern bewegten sich lautlos durchs Moor, und sie waren auch bei weitem nicht so groß wie das, was da im Unterholz lauerte ...
... und mir folgt, dachte Svenja, verzweifelt bemüht, ihre Panik zu unterdrücken. O lieber Gott, es folgt mir!
Wie zur Bestätigung kam das Rascheln näher, und für einen Moment glaubte die junge Torfstecherin, ein rhythmisches, irgendwie saugendes Geräusch zu vernehmen, als würde der Wind durch die verwinkelten Erker eines alten Gemäuers streichen. Im ersten Augenblick vermochte Svenja sich darauf keinen Reim zu machen, doch dann erkannte sie, was sie da hörte.
Atemgeräusche.
Das war zu viel für Svenja. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich ihre Unruhe in Hysterie. Eigentlich war sie stets der Meinung gewesen, kein übermäßig ängstlicher Mensch zu sein – dafür hatte sie in ihrem Leben hier im Moor schon zu viel gesehen und erlebt –, doch jetzt packte die Furcht ihr Herz wie eine eiserne Klaue und drückte unbarmherzig zu, und auf einmal war in Svenjas Verstand nur noch Platz für einen einzigen Gedanken.
Weg hier – so schnell wie möglich weg!
Svenja fing an zu laufen. Das dumpfe Trampeln ihrer Stiefel auf dem Boden vermischte sich mit dem Keuchen ihres Atems und dem Pochen ihres Herzens. All ihre Sinne waren auf ihre Umgebung gerichtet, auf das Rascheln im Unterholz, das zunehmend lauter wurde, und vor ihrem inneren Auge flammte das Bild eines Schwarzbären auf, der auf allen vieren durchs Moor hetzte, die Augen vor Tollwut gerötet, blutigen Schaum vor dem Maul. Doch soweit Svenja wusste, gab es in der Gegend um Moorbruch schon seit drei Generationen keine Bären mehr ...
Sie schob den Gedanken beiseite und lief weiter, lief so schnell sie konnte, doch schon nach einem halben Kilometer schlug ihr das Herz bis zum Hals, und kurz darauf kam das Seitenstechen, erst leicht, dann schnell heftiger werdend. Svenja zwang sich, ruhiger zu atmen und den Schmerz zu ignorieren. Als sie dann in Panik über die Schulter blickte, sah sie, wie fünfzig Meter hinter ihr ein Schatten aus dem Unterholz brach, groß und bullig, beinahe so hoch wie sie selbst, mit einem wuchtigen, riesigen Schädel, der halb im Zwielicht verborgen lag, als hätte selbst der Mond Angst, zu viel von dieser ungeheuerlichen Kreatur zu enthüllen.
Bei den Alten Göttern, was war das für ein Wesen?
Svenja vermochte es nicht zu sagen. Sie hatte dergleichen noch nie zuvor gesehen. Doch eins stand zweifelsfrei fest: Es war hinter ihr her, hinter ihr allein, da gab es kein Vertun!
Dieser Gedanke trieb Svenja weiter vorwärts. Farnwedel und Nesseln peitschten gegen ihre Beine, als der Pfad ein Stück weiter vorn über eine kleine Anhöhe führte und dahinter abrupt schmaler wurde, sodass die Äste der Büsche und Sträucher halb auf den Weg ragten, während sich jenseits davon die schwarzbraune Fläche des Moores abzeichnete, die vom Schein des aufgehenden Mondes in ein stumpfes silbriges Licht getaucht wurde. Hier und da stiegen mit leisem Blubbern Luftblasen an die Oberfläche, wo Pflanzen im Brackwasser verrotteten, und aus den Augenwinkeln heraus sah Svenja, dass rechts von ihr der auffällig geformte Felsen aufragte, den die Menschen in dieser Gegend seit Jahr und Tag den „Teufelsfelsen“ nannten. Wind, Regen und der Zahn der Zeit hatten den gut zehn Meter hohen Felsen so bearbeitet, dass er mit ein wenig gutem Willen an einen Schädel erinnerte – mit tief eingefallenen Augenhöhlen, hervorstehender Nase und zwei Hörnern, die aus der fliehenden Stirn in den Nachthimmel ragten. Eine verkrüppelte Kiefer wuchs auf dem Teufelsfelsen, hatte ihre Wurzeln in das schwarze Gestein gekrallt, und Svenja wusste, dass von hinten her eine Art Pfad auf den Felsen und zur Kiefer führte. Die Alten in Moorbruch erzählten, dass die Dunkelelfen hier vor langer Zeit grausame heidnische Rituale durchgeführt hatten, um ihren schrecklichen Göttern zu huldigen. Trotzdem spendete der Anblick des Teufelsfelsens Svenja neue Kraft, denn der Felsen war allenfalls einen Kilometer vom östlichen Rand von Moorbruch entfernt, und das hieß, dass sie nur noch ein paar Minuten durchhalten musste, dann war sie in Sicherheit vor dem, was auch immer ihr da auf den Fersen war und mit jeder Sekunde näher kam ...
Der Pfad wand sich am Fuß des Teufelsfelsens vorbei nach Osten, wo Moorbruch lag. Svenja folgte dem Weg in den Schatten des Felsens, doch je schneller sie lief, desto unerträglicher wurde das Seitenstechen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch immer den Weidenkorb mit dem Torf auf dem Rücken trug, und ohne innezuhalten, streifte sie sich die Tragriemen von den Schultern und ließ den Korb achtlos zu Boden fallen. Torfbrocken rollten ihr zwischen die Füße und brachten sie ins Straucheln. Svenja drohte zu fallen und stolperte mit einem entsetzten Keuchen nach vorn. Der weit hervorstehende Ast einer Krüppelkiefer traf sie ins Gesicht und brachte ihr unmittelbar unter dem linken Auge eine kleine Wunde bei, doch Svenja spürte den Schmerz kaum. Im letzten Moment gelang es ihr, sich wieder zu fangen; sie stützte sich kurz am borkigen Stamm eines Baums ab und taumelte mehr, als dass sie lief, weiter. Sie merkte, wie ihre Kräfte mit jedem Schritt nachließen, und widerstand dem Drang, sich erneut nach dem Ding umzusehen, das sie durchs Moor jagte; das war auch überhaupt nicht nötig, denn ihre Ohren verrieten ihr auch so, dass ihr Verfolger noch da war – und unbarmherzig zu ihr aufschloss ...