Zara konnte es ihm nicht verdenken; das alles klang nicht sehr anheimelnd. „Du sagtest, ihr habt Jagd auf die Bestie gemacht?“
Jahn nickte düster. „Mehrmals. Zweimal haben wir alle Männer von Moorbruch zusammengetrommelt und mit Hunden und Fackeln das gesamte Moor durchstreift, kurz nachdem die Bestie zugeschlagen hatte. Doch obwohl die Hunde ein ums andere Mal eine Spur aufgenommen hatten, verlor sie sich irgendwann, ohne dass wir von der Bestie auch nur ein Haar gesehen hätten. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden. Deshalb haben wir auf eine List zurückgegriffen, in der Hoffnung, die Bestie aus ihrem Versteck zu locken.“
„Was habt ihr gemacht?“, wollte Falk wissen. „Euch als Weiber verkleidet?“
Zu seiner Überraschung nickte Jahn. „Mehrere Männer aus Moorbruch haben sich in Frauenkleider und Perücke geworfen und sind in dieser Aufmachung im Moor auf Patrouille gegangen, in der Hoffnung, die Bestie würde sich zeigen und sie angreifen. Doch das Biest ist nicht dumm; es geht mit großem Geschick und Bedacht vor und hat die Falle sofort gewittert. Statt sich auf die Lockvögel zu stürzen, ist die Bestie in dieser Nacht nur einen Steinwurf vom letzten Posten entfernt über ein vierzehnjähriges Mädchen hergefallen, das entgegen aller Vernunft hinausgegangen war, um sich die Sterne anzusehen, die in dieser Nacht so klar waren wie seit Jahrzehnten nicht.“ Seine Stimme wurde hart, als er sagte: „Wir fanden ihren Körper draußen bei den Stallungen, doch ihr Kopf lag dreißig Schritte weiter neben einem Futtertrog.“
Falk schluckte trocken; sein Adamsapfel hüpfte.
„Die Bestie entkam so unbemerkt, wie sie gekommen war“, führ Jahn leise fort, als fiele es ihm schwer, darüber zu sprechen. „Sie ließ kurz nach der Bluttat aber ein unheilvolles Heulen hören, so, als würde sie uns für unsere Naivität verspotten, und vielleicht tat sie sogar recht daran. Denn was wäre gewesen, wenn es uns wirklich gelungen wäre, die Bestie anzulocken? Vermutlich hätte es dann nur noch mehr Tote in Frauenkleidern gegeben. Denn egal, was die Bestie auch ist, sie ist nicht nur groß, mächtig und gerissen, sondern nach allem, was man hört, auch unverwundbar.“
Zara runzelte die Stirn. „Unverwundbar? Wie kommst du darauf?“
„Zwei Männer behaupten unabhängig voneinander, sie wären in den Wäldern zufällig auf die Bestie gestoßen und hätten auf sie geschossen, ebenso wie der Jäger, der dazukam, als die Bestie sein Opfer gerade zerriss. Alle sagen, sie hätten sorgsam gezielt, und jeder schwört, er hätte der Bestie mindestens eine Kugel verpasst, doch das Ungetüm ließ sich davon nicht aufhalten, und wir haben an den Stellen, an denen sich die Zwischenfälle ereigneten, auch keine Blutspuren gefunden oder überhaupt irgendwelche Spuren, die auf die Bestie hingewiesen hätten. Deshalb sind einige auch der Ansicht, diese Kreatur sei nicht von dieser Welt.“
„Es gibt nichts außerhalb dieser Welt“, sagte Zara unheilvoll. „Doch das ist auch gar nicht nötig. Denn glaub mir, das, was in dieser Welt lauert, reicht bereits vollauf, um deine schlimmsten Albträume wahr werden zu lassen.“
„Mein schlimmster Albtraum ist bereits wahr geworden“, entgegnete Jahn mit belegter Stimme. „Die Vierzehnjährige, die die Bestie vor einer Woche am Ortsrand von Moorbruch gemordet hat...“ Er stockte, und seine Stimme klang dünn, als er fortfuhr: „Sie war meine jüngste Schwester. Ihr Name war Myra.“ Er brach ab, um zu verhindern, dass Tränen seine Worte trübten, doch Zara konnte seine Trauer beinahe körperlich spüren. Jetzt verstand sie, warum er so versessen darauf war, die Bestie zur Strecke zu bringen.
Er wollte Rache.
Rache für seine tote Schwester.
Rache für die anderen neun toten jungen Frauen.
Er wollte, dass in Moorbruch wieder die Normalität einkehrte und man sich nicht mehr fürchten musste, aus dem Haus zu gehen; dass Frauen und Kinder wieder sicher waren und das Morden endlich aufhörte. Aber das war noch nicht alles, wurde Zara klar. Da war noch etwas anderes, das sie vorhin schon bemerkt hatte, als Jahns Blick in die Ferne geschweift war, zu jenen, die er daheim zurückgelassen hatte, als er aufbrach, um Hilfe zu holen.
Auf einmal wusste sie, was es war.
„Wie heißt sie?“, fragte sie ungewohnt sanft.
Jahn antwortete nicht sofort. Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Ängste soweit in den Griff bekommen hatte, dass er Zara wieder ansehen konnte. „Wanja“, sagte er, und die Art, wie er den Namen aussprach – so voller Gefühl und Hingabe –, machte deutlich, was er für sie empfand. „Wir sind verlobt.“ Voller Stolz hielt er seine linke Hand hoch und zeigte den schlichten Kupferring. „Sobald der Winter vorüber ist, wollen wir heiraten.“
„Ihr wird schon nichts passiert sein“, sagte Falk. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Spuk so schnell vorüber ist, wie er begonnen hat, und niemand muss mehr sterben. Nicht wahr, Zara?“ Falk warf ihr einen eindringlichen Blick zu, der sie bat, ihm zuzustimmen, einfach, damit Jahn sich besser fühlte.
Doch Zara war keine Freundin von derlei Augenwischereien. Woher sollte sie wissen, ob Wanja wohlaufwar? Jahn war nach eigenem Bekunden bereits seit zwei Tagen fort, und in dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein.
Alles Mögliche...
Sie ließ Kjell ein paar schnelle Schritte vortraben, um Abstand zu den beiden jungen Männern zu gewinnen. Sie war sich nicht sicher, was sie von alldem halten sollte. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Jahns Geschichte im besten Falle merkwürdig klang, ja, absurd geradezu. Eine Bestie, die eines Tages aus dem Nichts auftaucht, um jungen Frauen das Herz aus der Brust zu reißen ... Ein Wolf, der sich immer dieselbe Art Opfer sucht und seinen verkleideten Häschern wie ein Geist entkommt, um sie zu verhöhnen ... Eine Bestie, der Kugeln nichts anhaben können ... Das klang alles recht seltsam, zumal Zara fast gänzlich ausschließen konnte, dass es sich um einen Wolf handelte, denn wenn sich in dem Gebiet um Moorbruch ein tollwütiger Wolf herumtrieb, dann wäre das Tier inzwischen längst an der Tollwut verendet, spätestens nach zehn Tagen. Doch die Bestie trieb ihr Unwesen schon länger als einen Monat. Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hatten sie es nicht mit einem tollwütigen Wolf zu tun – oder sie hatten es überhaupt nicht mit einem Wolf zu tun!
Aber wenn es kein Wolf war, was war die Bestie dann?
Zwar teilte Zara den Aberglauben nicht, dass es sich bei der Bestie um eine Kreatur aus einer anderen Welt handelte. Doch sie weilte inzwischen lange genug auf Ancarias Boden, um zu wissen, dass es weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als sich die Schulweisheit träumen ließ; sie selbst war dafür der beste Beweis.
Sie wurde in ihren Grübeleien unterbrochen, als Falk zu ihr aufschloss. „Was hältst du davon?“, fragte er. „Von dem unverwundbaren riesigen Ungeheuer aus einer anderen Welt? Ich meine, wer glaubt schon an Ungeheuer? Diese Tage sind längst vorbei.“ Vor ein paar Stunden noch hätte er die Frage wohl flapsiger formuliert, doch Zara nahm an, er fürchtete, Jahn könnte ihn hören und zurechtweisen, wenn er sich zu respektlos zu dem Thema äußerte.
Zara warf ihm einen unterkühlten Blick zu. „Bist du dir da so sicher?“
„Naja.“ Falk schob die Unterlippe vor. „Zumindest ist es ein Zeitalter her, dass man zuletzt einen Drachen in Ancaria gesehen hat, und auch die Dunkelelfen haben sich seit einem Jahrtausend nicht mehr blicken lassen. Und abgesehen von dem einen oder anderen Halsabschneider, der mir aus unerfindlichen Gründen an die Gurgel will, weil er meint, ich hätte ihn beim Spielen betrogen, wüsste ich nicht, dass es Ungeheuer gibt.“