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„Ungeheuer können vielerlei Form und Gestalt haben“, sagte Zara. „Wer glaubt, dass Ungeheuer wie in Märchen aussehen und auf den ersten Blick zu erkennen sind, ist entweder ein Narr oder schwachsinnig.“ Sie sah Falk herausfordernd an. „Oder beides.“

Falk zog eine Grimasse, sagte jedoch nichts. Beleidigt ließ er sich wieder zurückfallen. Zara führte ihren Hengst weiter durch den Forst, gefolgt von Jahn, der mit düsterer Miene an all das Grauen dachte, das Moorbruch heimgesucht hatte. Vielleicht fragte er sich, was die anständigen, hart arbeitenden Menschen dort getan hatten, um so ein grausiges Schicksal zu verdienen, doch Zara wusste, dass solche Gedanken müßig waren. Leiden kann bloß, wer auch liebt, hatte einmal ein weiser Mann gesagt. Zaras Meinung nach war zu lieben vermutlich die größte Schwäche von allen. Andererseits war die Liebe auch der Quell der Hoffnung, die Saat, aus der alles Gute erwuchs. Ohne Liebe gab es keine Hoffnung, und wenn es keine Hoffnung mehr gab, verschwand die Grenze zwischen Gut und Böse und mit ihr alle Menschlichkeit.

Zara musste es wissen.

Auch dafür war sie der beste Beweis.

2. Teil

Moorbruch

Zwischen zwei Welten wandernd, eine tot, die andere ohnmächtig, geboren zu werden.

Matthew Arnold, The Grande Chartreuse

X.

Die Reise durch den Dunkelforst währte zwei volle Tage, während derer sie zuweilen nicht recht zu sagen vermochten, ob es sich bei dem Licht, das hier und da in schrägen Strahlen durch das dichte Blätterdach der Bäume fiel, um Sonnenstrahlen oder Mondlicht handelte, so abgeschieden waren sie von der Welt außerhalb des Waldes. Nichts im Forst erinnerte daran, dass es jenseits der Bäume und Sträucher noch irgendetwas anderes gab, als wäre die ganze Welt nichts weiter als ein riesiger, nie enden wollender Wald, in dem Tag und Nacht eins wurden und der anbrechende Winter nur eine Legende war.

Eintönigkeit drückte auf die Gemüter. Wohin man auch schaute, alles sah gleich aus: Sträucher, Büsche und Bäume. Die Zeit kroch quälend langsam dahin. Minuten wurden zu Stunden, Stunden zu Tagen, und am Ende eines Tages hatte man das Gefühl, dass seit dem Morgen Äonen vergangen waren, die man mit gelangweiltem Nichtstun verbracht hatte. Das war vielleicht das Schlimmste daran: dieses Nichtstun, gegen das man nichts ausrichten konnte, und wenn in einem noch so viel Tatendrang steckte.

Während sie hintereinander dem Pfad nach Südosten folgten, wurde nur das Nötigste besprochen. Zweimal am Tag rasteten sie an kleinen Quellen oder Bachläufen, um die Pferde zu tränken, und abends schlugen sie am Wegesrand ihr Lager auf, um nicht nur den Pferden, sondern auch sich selbst ein wenig Schlaf zu gönnen. Bald war der Rest Brot aufgebraucht, doch Jahn war ein geschickter Jäger, und während am ersten Abend ihrer Reise eine weitere Waldschnepfe den Weg auf ihren Spieß fand, kehrte Jahn am zweiten Tag mit einem Burbur aus dem Dickicht zurück. Falk hatte diese großen, rattenähnlichen Säugetiere von der Größe eines Hundes noch nie gesehen, und die blasse, unbehaarte Haut des Säugers und der lange nackte Schwanz von der Dicke eines Fingers entlockten ihm ein angewidertes Keuchen. Jahn hackte der Kreatur den Kopf ab und spießte sie auf den Stock, um sie über dem Feuer zu braten, und am Ende obsiegte auch bei Falk der Hunger, und er schlang seine Portion gierig hinunter, überrascht, dass etwas, das so widerlich aussah, so munden konnte.

Der Winter war inzwischen endgültig über Ancaria hereingebrochen; auch wenn der Schnee nicht bis in den Wald fiel, Zara konnte ihn riechen, und gerade in den Nächten wurde es klirrend kalt.

Jahns Verletzungen heilten zusehends. Die geprellten Rippen bereiteten ihm zwar hin und wieder noch Probleme, wenn er sich falsch oder zu ruckartig bewegte, doch es würde nicht lange dauern, bis auch das aufhörte, und dann würden nur noch die Wunden in seiner Seele an sein Zusammentreffen mit den Wegelagerern erinnern. Doch diese Wunden, das wusste Zara aus eigener Erfahrung, waren die, die am längsten schmerzten. Was sie selbst anging, so waren ihre Verletzungen schon am ersten Tag vollends verheilt; nur zwei kleine kreisrunde Narben erinnerten an die Pfeile, die vor zwei Tagen noch fingertief in ihrem Fleisch gesteckt hatten. Auch, wenn sich ihre Begleiter darüber wundern mochten, es verlor niemand ein Wort darüber, und Zara war dankbar dafür.

Letzte Nacht, als sie nach dem Essen um ihr Feuer lagen, um ein paar Stunden zu schlafen, hatte Zara bemerkt, dass Jahn im Schutz seiner Decke leise betete; vermutlich nahm er an, sie und Falk würden tief und fest schlafen. Obwohl sie einige Meter weit weg lag und das Gebet des jungen Mannes kaum mehr als ein Flüstern unter dem leisen Rascheln der Blätter war, konnte Zara hören, was er sagte. Er bat darum, dass sein Gott seine geliebte Wanja bis zu seiner Rückkehr behüten und beschützen möge, dass seine Schwester im Tode ein besseres Leben führen würde als zu Lebzeiten – und dass Zara die Kraft haben würde, die Bestie zur Strecke zu bringen, um Moorbruch endlich wieder Frieden zu schenken.

Zara hatte sich mucksmäuschenstill verhalten und so getan, als würde sie schlafen, doch insgeheim hatte sie auf jedes Wort gelauscht, das über Jahns Lippen kam. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass sie jemals irgendjemanden in ihr Nachtgebet eingeschlossen hatte, mal abgesehen von ihrer Mutter, und langsam aber sicher spürte sie immer stärker die Last der Verantwortung, die sie sich mit dieser Sache aufgeladen hatte. Jahn sah in ihr die Rettung für die Menschen von Moorbruch, und sie hatte keine Ahnung, ob sie dem gerecht werden konnte.

Moorbruch tauchte schließlich am Ende des zweiten Tages vor ihnen im trüben Schein der Abenddämmerung am Fuße eines Hügels auf. Jahn stieß ein erleichtertes Seufzen aus, froh, wieder zu Hause zu sein. Falk hingegen blinzelte verblüfft mit den Augen; Zara war sich nicht sicher, was er von dem Ort erwartet hatte, aber ganz offensichtlich nicht das, was sich da am Fuße des kleinen bewaldeten Hügels vor ihnen ausbreitete.

Moorbruch bestand aus vier Dutzend Häusern, Hütten, Gehöften und Gebäuden, die sich wahllos auf der Lichtung zwischen den Bäumen erstreckten, wie Farbkleckse, die ein Kind achtlos auf eine Tafel getupft hatte. Zumeist waren es schäbige, windschiefe Katen mit Dächern aus Schieferholz, einige mit einem kleinen Garten oder einem schäbigen Stall, doch es gab auch eine Hand voll ansehnlicherer, aus Bruchstein errichteter Gebäude mit leuchtend roten Ziegeldächern, die zwischen den einfachen Hütten seltsam fehl am Platz wirkten. Aus den Schornsteinen stiegen senkrecht Rauchfahnen in die graue Luft, und aus zahlreichen Fenstern viel Feuerschein auf den frisch gefallenen Schnee. Ein Bach lief durch den Ort, über den am Ortseingang eine steinerne Brücke führte.

Ein Labyrinth aus Trampelpfaden verband die Gebäude miteinander, und ein breiter Pfad aus fest gestampfter Erde verlief quer durch den Ort zur Kirche, die am hintersten Ortsrand direkt vor dem dunklen Hintergrund des Waldes aufragte. Es war kein Tempel, in dem man den Alten Göttern huldigte, sondern eines jener Gebäude, in denen der einzige Gott einer Religion verehrt wurde, die sich in Ancaria immer mehr ausbreitete und die sich um Gnade und Erlösung drehte. An die Kirche schloss sich ein kleiner Friedhof an, voller windschiefer Grabsteine und Kreuze, das Zeichen jenes Glaubens, dem die Moorbrucher offenbar mehrheitlich anhingen.

Rings um den weitläufigen Platz im Zentrum des Ortes, der von einem alten Steinbrunnen beherrscht wurde, staken Pechfackeln in der Erde, deren flackerndes Licht der im Stechschritt nahenden Nacht zu trotzen versuchte, während rußiger Qualm wie stinkender Nebel über den Platz zog. Lange Eiszapfen hingen von Querbalken und Dachsimsen, und Büsche und Sträucher waren zu weißer Pracht erstarrt.