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Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, doch am Rande des vom Fackelschein erhellten Platzes stand ein großer, zweigeschossiger Steinbau mit spitz zulaufendem Giebel. Über der Tür baumelte ein Holzschild an zwei Eisenketten – ein Gasthaus, und gut besucht noch dazu, so schien es, denn hinter den Fenstern konnte Zara Schatten hin- und herhuschen sehen.

Ansonsten erinnerte Moorbruch an eine Geisterstadt; wären die Fackeln und das Licht hinter den Fenstern nicht gewesen, man hätte meinen können, die Menschen hätten dem Ort schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt.

„Du liebe Güte“, murmelte Falk so leise, dass Jahn ihn nicht hören konnte. Unwillkürlich schlug er seinen Mantelkragen höher, denn je näher sie dem Waldrand gekommen waren, desto kälter war es geworden, und jetzt biss ihnen die Kälte mit scharfen Zähnen ins Gesicht. „Das hier mag vielleicht nicht der Arsch der Welt sein, aber wenn nicht, dann ist es höchstens einen Furz davon entfernt...“

Zara brachte ihr Pferd neben denen ihrer beiden Begleiter zum Stehen und ließ den Blick über den Ort schweifen.

„Es sieht so friedlich aus“, sagte Jahn neben ihr, und ein kleines Lächeln huschte über seine Züge. „Als hätte das Böse nie seine grausigen Pranken auf dieses Stück Erde gesetzt.“ Er deutete auf einen kleinen Hof am Ortsrand. „Dort drüben ... da lebe ich zusammen mit meiner Schwester Ela, nachdem meine jüngste Schwester von der Bestie ermordet wurde. Es ist ein bescheidenes Heim, aber mein Zuhause, und was ich euch an Gastfreundschaft bieten kann, gebe ich gern.“

Bevor Zara darauf etwas erwidern konnte, begannen die Kirchenglocken zu läuten; das tiefe, satte Dröhnen der Glocken wehte wie ein unheilvoller Willkommensgruß zu ihnen herüber – Do-dong!

Do-dong! –, und schlagartig gefror Jahns Lächeln zu Eis.

„Die Glocken ...“, raunte er. „Es muss etwas passiert sein!“

Plötzlich gab es für den jungen Mann kein Halten mehr. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trieb er dem Pferd die Hacken in die Flanke und preschte den verschneiten Hügel hinunter. Die Hufe des Gauls wirbelten Schnee und Erde auf, als Jahn das Pferd den Trampelpfad hinuntertrieb. Zara verdrehte ob seines Ungestüms die Augen, dann preschte sie Jahn hinterher nach Moorbruch, das durch das Glockenläuten unversehens zum Leben erwachte, denn auf einmal war der Ort erfüllt von reger Geschäftigkeit. Aus fast jedem Haus kamen Männer, Frauen und Kinder, viele notdürftig mit Äxten, Knüppeln und Heugabeln bewaffnet, und aus dem Gasthaus strömten ein Dutzend Herren in Amts- oder Jagdgarderobe, die offenbar gerade bei einem Umtrunk in der Schenke zusammengesessen hatten. Über alldem lag das dumpfe Dröhnen der Kirchenglocken, das laut und durchdringend durch die Dämmerung drang und Zara in den Ohren schmerzte, wie Hammerschläge auf einen Amboss, die ihr durch und durch gingen; wie Jahn, der sein Pferd in wildem Galopp auf die Ortschaft zutrieb, ahnte auch Zara, dass das Läuten der Glocken nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Sie erreichte die ersten Häuser von Moorbruch nur Augenblicke nach Jahn, doch anders als dieser, der in gestrecktem Galopp den Hauptpfad entlangpreschte, auf die Schenke und den großen Platz im Zentrum des Ortes zu, zügelte Zara auf einmal ihren Hengst. Einen Moment lang hatte Falk den Eindruck, etwas in Zara sträube sich dagegen, in Moorbruch einzureiten, dann glaubte er den Grund für ihr Zögern zu erkennen; alle, an denen sie vorbeikamen, warfen ihnen skeptische Blicke zu, als sie durch das Spalier der Häuser gemächlich durch den Ort ritten. Dutzende verhärmter, vom Leben gezeichneter Gesichter mit eingefallenen Wangen, tief in den Höhlen liegenden Augen und blasser Haut musterten die Neuankömmlinge argwöhnisch, als Zara und Falk in einigem Abstand hinter Jahn her durch Moorbruch trabten, und hier und da bemerkte Falk, dass sich Männerhände fester um die Stiele ihrer Äxte und Knüppel schlossen, als befürchteten sie, die Fremden wollten ihnen Böses.

Falk fiel auf, dass Zara es vermied, irgendeinen Moorbrucher eingehender zu mustern oder den Menschen gar in die Gesichter zu sehen; anfangs dachte er, sie wolle vermeiden, die verängstigten Einwohner zu provozieren, indem sie sie anstarrte, doch dann kam er zu dem Schluss, dass das noch nicht alles war. Da war noch etwas anderes, etwas, das Zara auch am Ortsrand hatte zögern lassen; fast war es, als fühle sie sich unwohl, was jedoch angesichts der Hoffnung, die Jahn und damit die anderen Einwohner von Moorbruch in sie setzten, nur allzu verständlich war. Als er die Ortschaft so ruhig und friedlich am Fuß des Hügels liegen sah, hatte Falk einen Moment lang befürchtet, sie seien womöglich zu spät gekommen und der „Bürgerwehr“ sei es am Ende doch gelungen, die Bestie zu erlegen. Doch nun sah er all diese ängstlichen Minen, in denen die Furcht so klar und deutlich zu lesen stand wie Worte in einem Buch.

Die Bestie suchte Moorbruch noch immer heim.

Als sie auf den Platz vor der Schenke ritten, herrschte rings um sie reges Treiben. Die Menschen umringten die Reiter in gebührendem Abstand, doch statt dem heimgekehrten Jahn und seinen beiden Begleitern galt die Aufmerksamkeit vor allem dem schlaksigen jungen Burschen in dem weiten, verwaschenen Mantel, der vollkommen außer Atem den verschneiten Pfad von der Kirche heruntergelaufen kam; bei jedem Schritt wehten weiße Wölkchen aus seinem Mund, und als er nahe genug heran war, dass die Menschen ihn verstehen konnten, brüllte er, bemüht, das laute Dröhnen der Glocken zu übertonen: „Die Bestie! Am Weiher! Die Bestie hat wieder zugeschlagen!“

Ein furchtsames Raunen ging durch die versammelte Menge; insgeheim hatten wohl alle genau damit gerechnet, doch die Gewissheit versetzte ihnen dennoch einen Schock. Es war, als würde sich unvermittelt ein dunkler Schatten über den von Fackelschein erhellten Platz senken, der sich wie ein Schleier über das Antlitz jeder Frau, jedes Mannes und jedes Kindes legte und alle Lebensfreude zu erstricken drohte. Zwei oder drei Frauen begannen zu weinen, Kinder klammerten sich an ihre Mütter, und Väter legten beschützend die Arme um ihre jungen Töchter, denen das Entsetzen darüber, dass es wieder eine aus ihrer Mitte getroffen hatte, ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben stand wie die Erleichterung, dass sie selbst ein weiteres Mal verschont geblieben waren.

Jahn preschte durch die Menge zur Schankstube, aus deren Tür ein schräger Balken Licht hinaus in den Schnee fiel. Die Einwohner von Moorbruch machten ihm Platz. Jahns Blick glitt suchend über die Gesichter der Versammelten, doch das, das er suchte, fand er zu seinem Leidwesen nicht, und das ließ ihn nur noch ungestümer werden. Mit einem Satz sprang er vor der Schenke vom Pferd, lief auf den Burschen in dem zerlumpten Mantel zu, packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn heftig. „Was ist passiert? Wen hat die Bestie erwischt? Wer ist es? So sprich doch, Junge!“ Seine Stimme bebte, und Panik funkelte in seinen Augen, als er sich unwillkürlich ausmalte, dass es Wanja war, die der Bestie diesmal zum Opfer gefallen war; dass er trotz aller Hast am Ende doch zu spät gekommen war.

Wenn er gehofft hatte, der Bursche könnte ihm die Furcht nehmen, dann wurde Jahn enttäuscht. Völlig außer Atem, schüttelte er keuchend den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich sah nur vom Kirchturm aus das Opfer. Sie liegt drüben beim kleinen Weiher, völlig reglos.“ Er wies in die entsprechende Richtung, hektische rote Flecken auf den Wangen.

Jahn folgte seinem Finger mit den Augen und verlor keine Zeit. Er ließ von dem Burschen ab, sprang wieder auf sein Pferd und schoss durch die auseinander stiebende Menge davon, in Richtung Weiher, das Gesicht hart vor Sorge. Ohne auf seine Begleiter zu warten oder irgendjemanden ringsum auch nur eines Blickes zu würdigen, jagte er über den Platz, am Brunnen vorbei, in den Schatten der nächsten Häuser. Die Ungewissheit trieb ihn an.

Zara zog eine Grimasse. „Die Liebe“, murmelte sie abschätzig, „sie macht alle Menschen zu Idioten ...“

„Außer die, die schon welche sind“, entgegnete Falk neben ihr. Er schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd über den Platz, hinter Jahn her, der sich in gestrecktem Galopp in der Dämmerung entfernte, während die Glocken langsam zum Stillstand kamen und der Nachhall ihres Dröhnens hohl und kalt durch die eisige Luft wehte.