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Do-dong... Do-dong...

Es waren Totenglocken.

XI.

Der kleine Weiher lag vielleicht einen Kilometer von Moorbruch entfernt, in einer flachen Senke am Waldrand, in der sich das Wasser in regnerischen Zeiten zu einem sumpfigen, morastigen Tümpel ansammelte. Doch jetzt war nur der Boden der Senke mit schlammigem, brackigem Wasser gefüllt, von dem ein moderiger Gestank ausging. Am schlammigen Ufer wuchsen Farne und Schilf, die in der Kälte der Dämmerung von einer glitzernden weißen Eisschicht überzogen waren, und auf dem Wasser lag ein dünner Eisfilm; bei diesen Temperaturen würde aus ihm in wenigen Tagen eine dicke Schicht werden.

Im flachen eisigen Wasser des Weihers, halb am schlammigen Ufer, lag die seltsam verdrehte Leiche einer Frau. Zuerst sah Zara beim Näherkommen bloß die leuchtend rote hüftlange Mähne, die wie ein Gespinst aus rotgoldenem Garn um den halb nackten Körper ausgebreitet war. Doch als sie näher kam und ein paar Schritte von der Leiche entfernt von ihrem Pferd stieg, um die Tote näher in Augenschein zu nehmen, hatte selbst die hartgesottene und mit allen Wassern gewaschene Zara alle Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken.

Die blicklosen Augen der Toten starrten hinauf zum wolkenverhangenen Himmel, und ihr Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Die Kehle war zerfetzt, und das Herz war ihr aus der Brust gerissen worden. Zähne und Klauen hatten das Kleid zerfetzt, so wie den Körper, der darin steckte. Offensichtlich lag die junge Frau, die vielleicht zwanzig Lenze alt sein mochte, bereits seit einigen Stunden hier, denn ihre porzellanweiße Haut war wie das Wasser mit einem hauchdünnen Eisfilm überzogen.

„O Gott“, raunte Jahn hinter Zara entsetzt, doch auch mit einem Hauch von Erleichterung in der Stimme, dass die Tote nicht seine geliebte Wanja war. „Das ist Ila, die Tochter des Schmieds ...“

Während Zara neben der Toten in die Knie ging, stiegen hinter ihr auch Jahn und Falk von ihren Pferden, um näher zu treten. Falk sog heftig den Atem ein, und sein Adamsapfel hüpfte. Dann aber nahm er sich zusammen, trat vor und sank neben Zara in die Knie, die aufmerksam jeden Zentimeter der Leiche und des Bodens darum in Augenschein nahm. Ihr Blick war ernst und konzentriert, ihre Miene ausdruckslos; nichts ließ erkennen, was sie dachte.

Dann erhob sie sich und ging langsam um die Leiche herum, um die nähere Umgebung zu untersuchen. Ein Stück weiter, am Rand der Senke, hatten sich einige Einwohner von Moorbruch eingefunden, die mit bangen Gesichtern und vor den Mund geschlagenen Händen verfolgten, wie Zara mit zu Boden gerichtetem Blick am schlammigen, halb gefrorenen Ufer des Weihers entlangging, nach ein paar Schritten stehen blieb und ihren Blick über den nahen Waldrand schweifen ließ. Zwischen den Bäumen dräute unheilvolle Dunkelheit, eine Wand aus Bäumen und Büschen, die fast wie eine natürliche Barriere wirkte.

Falk trat neben Zara, das Gesicht starr vor Entsetzen. Der Anblick der Toten hatte ihm alle Schlagfertigkeit genommen. „Ich kann mir nicht helfen“, sagte er. „Ich bin natürlich kein Fachmann, doch die Wunden dieses armen Geschöpfs scheinen mir viel zu groß zu sein, als dass sie von einem Wolf stammen könnten.“

Zara nickte. „Die Bisswunden am Hals und am Brustkorb sind fast zwei Hand breit, und die Klauen sind durch ihr Fleisch gegangen wie Messer, immer fünf nebeneinander, mit einem Abstand, der auf eine gewaltige Pranke schließen lässt, mindestens doppelt so groß wie die eines normalen Wolfs, wenn nicht gar noch mehr.“

„Ganz davon abgesehen, dass Wölfe keine fünf Krallen haben“, sagte Falk, „sondern nur vier.“

„Und auch keine fünf Zehen“, sagte Zara.

Falk runzelte die Stirn. „Wie meinen?“

Zara deutete auf den schlammigen Boden am Ufer des Weihers, wo neben der Leiche deutliche Spuren im halb gefrorenen Schlamm zu sehen waren: tiefe, halb mit Wasser gefüllte Abdrücke einer Pfote mit fünf Krallen, größer als die gespreizte Hand eines Mannes. „Die Bestie hat nicht nur fünf Finger, sondern auch fünf Zehen, und wenn man die Tiefe und Größe dieser Fußabdrücke und die Größe der Bissspuren bedenkt...“

„... dann muss das Ding riesig sein“, raunte Falk. „Mindestens so groß wie ein Mensch, aber um einiges schwerer.“ Er warf Zara einen besorgten Blick zu. „Das klingt ganz und gar nicht nach einem Wolf.“

„Es ist kein Wolf, erklärte Zara und betrachtete die Spuren auf dem Boden. „Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist mit Sicherheit kein Wolf.“ Sie hob den Kopf, als unversehens Hufgetrappel an ihr Ohr drang. Einen Augenblick später preschte ein vornehm gekleideter Herr mit edlem grauem Gehrock, wehendem Umhang und Amtsmütze auf seinem Pferd über den Rand der Senke. Ihm folgten zwei weitere Männern mit Gewehren, die Armeeuniformen trugen. Der Tross kam den Hügel hinunter, im Schlepp mehrere Einwohner von Moorbruch mit Pechfackeln.

Jahn bemerkte Zaras Blick, die die Neuankömmlinge aufmerksam musterte. „Das ist Reinhard von der Wehr“, sagte er, „der Bürgermeister. Er ist einer der wichtigsten Männer hier in Moorbruch.“

Zara brummte irgendetwas und verfolgte, wie der Bürgermeister näher preschte und erst am Ende der Senke sein Pferd zügelte.

„O Gott, nicht schon wieder!“, stöhnte Reinhard von der Wehr, als er die Tote am Ufer liegen sah. „Bitte, nicht schon wieder!“ Aufgebracht und aufgelöst trabte er zum Ufer und bedachte die Leiche vom Sattel seines Gauls aus mit einem traurigen Blick; seine kniehohen Lederstiefel in den Steigbügeln glänzten wie frisch poliert. „Ila, Ashmaniels Tochter.“ Er seufzte. „Der arme Kerl. Wenn er bislang nie einen echten Grund hatte, um zu saufen – jetzt hat er einen.“

„Vielleicht solltet Ihr nicht so respektlos den Toten gegenüber sein, mein Herr“, sagte Zara, die ein paar Schritte entfernt stand. „Stellt Euch vor, beim nächsten Mal ist es womöglich Eure Tochter, die dort liegt. Wärt Ihr dann auch so geschmacklos?“

Von der Wehrs Kopf ruckte zu Zara herum. Seine dunklen Augen unter den buschigen, fast zusammengewachsenen Brauen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen. „Was erlaubt Ihr Euch?“, fuhr der Bürgermeister Zara an, und aus Entsetzen und Trauer wurde entrüstete Wut darüber, dass diese Fremde ihm nicht den Respekt entgegenbrachte, der ihm gebührte. „Ich kenne Euch nicht, und ich wüsste nicht, Euch um Eure Meinung gebeten zu haben. Wer seid Ihr?“

Bevor Zara antworten konnte, trat Jahn vor. „Das, werter Bürgermeister“, sagte er beschwichtigend, „ist Zara. Sie ist auf meinen Wunsch hin gekommen. Sie wird uns von der Bestie befreien.“

Der Bürgermeister starrte erst Jahn, dann Zara und dann wieder Jahn voller Unglauben an. „Ein Weib?“, knurrte er, und seine Stimme klang, als hätte er Mühe, das Wort auch nur hervorzustoßen. „Wir schicken dich mit all unserem Hab und Gut los, um jemanden zu holen, der imstande ist, die Bestie für uns zu erlegen, und du kommst mit einem Weib zurück?“

Jahn wich von der Wehrs Blick nicht aus. „Sie hat mir das Leben gerettet“, sagte er. „Zwei Tagesritte von hier haben mich ein halbes Dutzend Gauner überfallen und wollten mich totschlagen. Sie wollten mir das Gold und mein Leben nehmen, doch dann kam sie und stellte sich den Schurken entgegen – keiner blieb am Leben.“

Von der Wehr hob die linke Augenbraue. „Keiner blieb am Leben, sagst du?“

„Nicht einer“, bestätigte Jahn.

Der Bürgermeister bedachte Zara mit einem abschätzigen Blick, musterte sie vom Fuß bis zum Scheitel und rümpfte die Nase. „Nun, Ihr seht nicht aus wie eine Jägerin“, sagte er bedächtig. „Eure Gestalt ist schmal, Ihr seid jung, und auch wenn ich Jahns Wort Glauben schenke und Euch dafür danken muss, dass Ihr sein Leben und unser aller Gold gerettet habt, so bezweifle ich doch sehr, dass ein Weib wie Ihr imstande ist, das zu tun, wobei zwei Dutzend gut ausgebildeter Amtmänner und Jäger versagt haben. Ja, mehr noch: Ihr seht recht appetitlich aus, und die Bestie leckt sich die Lefzen nach hübschem jungen Fleisch wie Eurem. Also, vielleicht tätet Ihr besser daran, an den Herd zurückzukehren, um diese Sache hier uns zu überlassen?“