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Wie um seine Worte Lügen zu strafen, wurde in diesem Moment die Tür zur Schankstube geöffnet, und eine Gestalt in einem weiten Wintermantel mit Kapuze trat herein, Schnee auf den Schultern, das Gesicht im Schatten der Kapuze verborgen. Doch dann schlug die Gestalt die Kapuze mit beiden Händen zurück, und das hübsche Gesicht einer jungen Frau von vielleicht zwanzig Lenzen kam zum Vorschein, die Wangen gerötet von der kalten Luft draußen. Während sie sich den Schnee von den Stiefeln klopfte, trat Jahn hinter ihr ein, schloss die Tür hinter sich und rieb fröstelnd die Hände aneinander, während er sich suchend im Schankraum umsah. Als er Zara und Falk in der Ecke erblickte, berührte er die junge Frau am Arm und wies in die entsprechende Richtung. Sie folgte Jahn durch den überfüllten Schankraum zum Tisch in der Ecke, wo Falk hastig aufsprang und unbeholfen mit einer Hand durch sein dichtes, zerzaustes Haar fuhr, in der vergeblichen Hoffnung, die Locken zu bändigen. So schnell, wie sein Zorn auf Moorbruch eben gekommen war, war er beim Anblick der jungen Frau nun verfolgen. Er stand da und hatte, so schien es, alle Mühe, seine Kinnlade oben zu halten, während das Pärchen neben dem Tisch stehen blieb und Jahn in einer halb beschützenden, halb besitzergreifenden Geste den Arm locker um die Taille der jungen Frau legte, die nervös von einem Fuß auf den anderen trat, die Finger ineinander verknotet. Zara kam sie vor wie ein scheues Reh; kein Wunder, dass ihr schüchternes Auftreten Jahns Beschützerinstinkt weckte.

„Das“, sagte Jahn, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören, „ist Wanja – meine Verlobte.“ Er stellte der jungen Frau an seiner Seite nacheinander erst Zara und dann Falk vor, und es fiel Falk nicht schwer, zu begreifen, warum Jahn so vernarrt in dieses Mädchen war.

Wanja war keine Schönheit im klassischen Sinne, wie man sie zu Dutzenden am Hof von Hohenmut fand, sondern ein Mädchen mit einer natürlichen, bodenständigen Ausstrahlung bar jeder Eitelkeit. Das hübsche Gesicht mit der kleinen, sommersprossigen Stupsnase und den großen grünen Smaragdaugen verlieh ihr einen mädchenhaften Charme; das lange goldfarbene Haar fiel ihr in geschwungenen Wellen um die Schultern.

Als sie neben dem Tisch stehen blieb und ein kleines Begrüßungslächeln über ihr Gesicht glitt, war es, als würde die Sonne aufgehen. Falk konnte nicht anders, als Jahn im Stillen zu verfluchen. Was für ein verdammter Glückspilz er war, so eine Frau an seiner Seite zu haben!

Wanja trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Ich kann Euch gar nicht sagen, wie dankbar ich Euch bin für das, was Ihr für meinen Verlobten getan habt“, sagte sie mit scheu gesenktem Blick, als hätte sie Angst, Zara und Falk direkt in die Augen zu schauen. „Ohne Euch wäre er jetzt tot, und ich wüsste nicht, wie ich weiterleben könnte ohne ihn.“

Bevor Zara darauf irgendetwas erwidern konnte, trat Falk eifrig einen Schritt vor und winkte ab. „Ach, nicht der Rede wert“, sagte er großmütig. „Als wir sahen, wie diese üblen Schläger dem armen Jahn zusetzten, war es für uns keine Frage, einzuschreiten, bevor er bleibenden Schaden erlitt. Auch wenn das in diesen schweren Zeiten nicht jeder von sich behaupten kann: Wir sorgen uns um das Wohl unserer Mitmenschen. Nicht wahr, Zara?“

Zara warf Falk einen durchdringenden Blick zu, doch der nahm sie kaum wahr; seine Aufmerksamkeit galt ganz der hübschen jungen Frau vor ihm, die ihm ein freundliches, schüchternes Lächeln schenkte. „Mein Dank ist Euch gewiss, werter Herr“, sagte sie mit dieser sanften, melodischen Stimme, die Falk unwillkürlich an ein feines mascarellisches Windspiel erinnerte, durch das eine sanfte Brise strich. Dann wandte sie sich Zara zu, und das, was die Ritterin in den großen grünen Augen der jungen Frau sah, waren Dankbarkeit, Respekt und – Angst. Wanja versuchte mit aller Macht, sich ihre Furcht vor der Frau vor ihr nicht anmerken zu lassen, doch diese Furcht war da, so greifbar wie das Glas in Zaras Hand. „Jahn hat mir berichtet, wie ihr ihn ganz allein vor diesen Halsabschneidern gerettet habt. Er ist Euch dankbar, dass Ihr hierher gekommen seid, um uns zu helfen, so wie alle hier Euch dankbar sind.“

Falk schnaubte verächtlich und warf einen Blick in die Runde; es schien, als wären die Gespräche, seit Jahn und Wanja hereingekommen waren, leiser geworden und die Ohren der Anwesenden größer, doch niemand wagte es, sie offen anzuschauen. „Nun, wenn dem so ist, dann verstehen es die meisten Moorbrucher großartig, diese Dankbarkeit für sich zu behalten.“

„Ihr dürft ihnen ihre Zurückhaltung nicht übel nehmen, Herr“, sagte Wanja in beschwichtigendem Ton. „Normalerweise sind die Menschen hier herzlich, gütig und voller Gastfreundschaft, doch seit ...“ Sie zögerte einen Moment, suchte nach den richtigen Worten. „Seit die Bestie uns heimsucht, hat sich in Moorbruch vieles geändert. Türen, die sonst stets offen standen, bleiben nun verschlossen; niemand lächelt mehr oder hat für jemand anderen ein freundliches Wort; jeder, der noch kein Familienmitglied durch die Bestie verloren hat, wird mit Argwohn betrachtet, als stecke er mit dem Ungeheuer unter einer Decke. Furcht, Trauer und Verzweiflung rauben den Menschen ihren Lebensmut, wie eine schleichende Krankheit, die von Tag zu Tag mehr um sich greift und Moorbruch Stück für Stück abtötet.“ Ihre Stimme zitterte, und ihre Lippen bebten. Zara konnte es ihr nicht verübeln; sie musste mit ansehen, wie ihr Leben und alles, was sie bislang dafür gehalten hatte, mit jeder weiteren Toten hinfortgerissen wurde wie ein Stück Treibholz in einem reißenden Strom. Da war ihre Verzweiflung nur allzu verständlich, nur allzu ... menschlich.

Zara sah der jungen Frau tief in die Augen und sagte „Wenn die Bestie eine Krankheit ist, bin ich die Arznei!“

Einen langen Moment sahen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen an, dann trat Falk vor und rückte Wanja seinen Stuhl zurecht. „Wollt Ihr Euch nicht setzen, Mademoiselle? Standhaft zu sein ist zwar eine Tugend, doch zuweilen ist sündigen die bessere Wahl.“ Er lächelte keck, obwohl er sich alle Mühe gab, einen guten Eindruck zu machen – zu wirken wie der Gentleman, der er nie gewesen war und wohl nie sein würde.

„Danke.“ Während Wanja mit einem dankbaren Lächeln Platz nahm, zog Falk unauffällig Jahn zur Seite. „Du lieber Himmel“, raunte er ihm ins Ohr. „Du bist ein glückliches Schwein ...“ Er hatte Mühe, seine Augen von Wanja zu lassen. „Deine Liebste hat nicht zufällig eine Schwester?“

Vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich vor drei Tagen im Wald getroffen hatten, grinste Jahn. „Du hast Glück. Da kommt sie gerade ...“

Mit diesen Worten deutete er hinüber zur Tür der Gaststube, die in diesem Moment aufschwang und neben einem Schwall kalter Luft Bürgermeister Reinhard von der Wehr in den Schankraum spie, an seiner Seite ein junges Mädchen, das Wanja wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur dass sie noch einige Winter weniger erlebt zu haben schien als ihre große Schwester.

„Das“, sagte Jahn, während Falk mit offenem Mund verfolgte, wie der Bürgermeister seine jüngste Tochter in den Raum geleitete, „ist Anna.“

„Beim heiligen Bimbam“, raunte Falk, „ist hier irgendwo ein Nest?“

Jahn wiegte den Kopf. „Die Schönheit kommt von ihrer beider Mutter, die leider vor einigen Wintern viel zu früh von uns gegangen ist.“

Zara hatte gute Ohren und das Gespräch der beiden jungen Männer trotz des Lärmpegels in der Gaststube verfolgen können. Sie sah Wanja an. „Dann bist du die Tochter des Bürgermeisters?“

Wanja nickte. „Die Älteste. Meine Schwester Anna ist vier Jahre jünger.“

Jetzt ließ der Bürgermeister seinen Blick durch den Raum schweifen und sah Zara zusammen mit Wanja in der Ecke sitzen. Er schenkte Wanja ein kleines, kühles Lächeln und nickte Zara zu. Auch Anna sah ihre Schwester mit den Fremden in der Ecke sitzen, doch im Gegensatz zum Lächeln ihres Vaters war ihres offen und ehrlich. Sie winkte Wanja, ehe sie tuschelnd ein paar Worte mit ihrem Vater wechselte und dann zu ihrem Tisch kam, während von der Wehr, begleitet von respektvollem Händeschütteln und Schulterklopfen, zur Nische gegenüber der Theke ging, die man von hier aus nicht einsehen konnte.