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Dann stand Anna vor Zaras Tisch, eine schlanke Siebzehnjährige in einem weiten Mantel, das flachsblonde Haar hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und mit dem gleichen offenen Lächeln gesegnet wie Wanja. Trotzdem schien sie aus anderem Holz geschnitzt als ihre Schwester, als sie jeden von ihnen der Reihe nach ansah und sagte: „Was muss eine junge Frau machen, um hier etwas Anständiges zu trinken zu kriegen?“

„Anna!“, entrüstete sich Wanja. „Was soll denn das?“

Anna warf ihrer Schwester einen trotzigen Blick zu. „Was schon? Nüchtern kann dieses Elend kein Mensch ertragen.“ Sie sah Falk herausfordernd an. „Also, was ist, Fremder?“

Falk hob die Augenbrauen und schluckte seine Überraschung herunter. Keine Frage, Anna und Wanja mochten sich sehr ähnlich sehen, doch im Innern waren sie so verschieden, wie man es sich nur denken konnte – die eine schüchtern und zurückhaltend, die andere vorlaut bis zur Unhöflichkeit. Er zog ihr einen freien Stuhl heran, schenkte ihr ein Glas mit Schnaps voll und hielt es ihr hin. „Auf Euer Wohl, junge Dame.“

Anna nahm das Glas und kippte es in einem Zug hinunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Dabei ließ sie Falk nicht aus den Augen, als wolle sie ihm damit imponieren, dass sich ihr bei diesem billigen Fusel nicht die Fußnägel aufrollten. Sie ließ das leere Glas langsam sinken. „In diesen Tagen gibt es nicht viel, wofür man den Alten Göttern dankbar sein könnte“, sagte sie, „außer für eins: dass sie uns den Schnaps geben, der nötig ist, um dieses Elend tagaus, tagein zu überstehen.“ Sie hielt Falk auffordernd das leere Glas hin.

Während Falk ihr widerwillig nachschenkte, blickte Anna in die Runde. „Ihr beiden seid also die, die gekommen sind, um uns von dem Übel zu befreien?“ Der unterschwellige Spott in ihrer Stimme war nur teilweise auf den Alkohol zurückzuführen, der durch ihre Blutbahnen zirkulierte. „Ihr seht gar nicht aus wie große Retter!“

„Das liegt vielleicht daran, dass wir noch neu in diesem Gewerbe sind“, gab Falk lakonisch zurück. „Aber wir werden die Bestie schon erledigen.“

„Keine Frage“, erwiderte Anna sarkastisch. Da Falk ihr noch immer nicht nachgeschenkt hatte, griff sie nun selbst nach der Flasche und füllte ihr Glas bis zum Rand. „Und wenn ihr mit dem Ungetüm fertig seid, könnt ihr euch ja auch gleich noch um den ganzen anderen Abschaum in diesem Kaff kümmern, an dem die Bestie leider kein Interesse hat.“

„Anna!“, raunte Wanja, ehrlich entsetzt. „Hör dich nur reden!“

Annas Kopf ruckte herum wie der einer angreifenden Schlange, und plötzlich funkelte kaum verhohlene Wut in ihren Augen. „Stimmt doch!“, blaffte sie. „Alle tun plötzlich so, als wären wir eine Gemeinschaft, eine große Familie, in der jeder auf jeden zählen kann. Aber letzten Endes ist noch immer alles genauso wie früher, bevor die Bestie kam: Nach außen hin zeigen sie Anteilnahme und Trauer und legen sich gegenseitig die Hand auf die Schultern, aber insgeheim ist jedes der Weibsbilder froh, wenn es eine andere und nicht sie selbst erwischt, und jeder Vater betet jeden Abend darum, dass die Bestie beim nächsten Mal über die Tochter seines Nachbarn herfallt und nicht über seine eigene!“

Wanja holte tief Luft, um ihre Schwester in die Schranken zu weisen – auch wenn sie vermutlich wusste, dass Anna Recht hatte –, doch bevor sie dazu kam, war aus der Nische gegenüber der Theke mit einem Mal eine dröhnende Baritonstimme zu hören, so laut, dass sie das Stimmengewirr im Schankraum übertönte, tief und durchdringend, fast so wie das Dröhnen der Glocken, das bei ihrer Ankunft über Moorbruch zu ihnen herübergeweht war. Und einen Moment später zeigte sich, dass dieser Vergleich recht treffend war.

„Und ich sage Euch, dieses Monster ist eine Strafe Gottes! Gott, der einzige Herr, hat sie uns geschickt, um uns zu prüfen und uns zu läutern, und wenn wir den Herrn nicht besänftigen, wird das Ungeheuer uns alle holen, einen nach dem anderen! Ja, verdammt, uns alle, bis Moorbruch ausgestorben ist! Das ist der Wille des Herrn! Hallelujah, sag ich!“

Schlagartig wurde es im Schankraum mucksmäuschenstill. Alle Köpfe ruckten zu der Nische herum, aus der nun ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann in einem schlichten lilafarbenen Priestertalar trat, der Kragen wie ein blütenweißer Ring um seinen fleischigen Hals. Um die Hüfte des Talars lief ein dünner Gürtel aus Goldfäden, und auch der Saum des Priesterrocks war mit goldenen Insignien bestickt.

Es handelte sich um einen Priester jener Religion, die nur einen Gott kannte, den Gott der Liebe und der Gnade. Eine Religion der Erlösung, die sich in Ancaria immer mehr verbreitete und die Alten Götter in vielen Landstrichen nahezu gänzlich verdrängt hatte. Dass die Menschen in Moorbruch Anhänger dieses Glaubens waren, hatte Zara bereits erkannt, als sie das Geläut der Kirche vernommen und auf dem Friedhof die Kreuze gesehen hatte.

Das Gesicht des Priesters war pausbäckig und von zu viel gutem Wein und fettem Essen aufgequollen, der Schädel bis auf die Kopfhaut kahl geschoren. Aus dem Tonkrug, den er in der linken Hand schwenkte, schwappte schaumiges Bier, als der Priester in die Mitte des Raumes taumelte und mit wilden, funkelnden Augen um sich starrte; offenbar hatte er heute bereits mehr als einen Humpen genossen. Sein schneidender Blick glitt von einem zum anderen, und nicht wenige der Anwesenden wichen vorsorglich einen Schritt zurück, als sie der Blick des Glaubensmannes traf.

„Das ist Salieri, der Priester hier“, raunte Jahn leise.

Salieri blieb schwankend in der Mitte des Schankraums stehen, den Bierkrug in der Hand. „Der Mensch“, grollte der Priester düster und mit leiserer Stimme als zuvor, „ist schwach. Der Herr schuf uns dereinst nach Seinem Angesicht, doch nur äußerlich, denn in uns“, hierbei schlug er sich mit der freien Hand an die Brust, „in uns sieht es anders aus. Unsere Seelen sind Mördergruben, so schwarz wie die tiefsten Tiefen der Hölle. Neid, Missgunst, Arroganz, Hochmut, Ehebruch, Lug, Betrug, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust...“ Bei jeder Sünde, die er aufzählte, starrte er einen anderen der Männer im Schankraum an, die unwillkürlich vor diesem gewaltigen, rechtschaffenen Stier im Gewand Gottes einen Schritt zurückwichen. „Keiner in unserer Mitte ist mehr ohne Schuld. Wir haben seine Schöpfung korrumpiert, sie so weit erniedrigt, dass keiner unter uns mehr imstande ist, den ersten Stein zu werfen, und genau deshalb, ihr Sünder“, jetzt ging er mit ausgestrecktem Zeigefinger von einem zum anderen und starrte jedem durchdringend in die Augen, „genau deshalb hat Gott uns die Bestie geschickt – um uns zu läutern; um uns zu zeigen, wie falsch und selbstgefällig unser Tun und Handeln ist und dass wir verdammt sind, wenn wir unsere Fehler nicht erkennen und wieder auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Die Bestie ist hier, um uns für unsere Sünden zu bestrafen, um uns wieder Demut vor Gott zu lehren, und egal, wie sehr wir ihre Taten auch verabscheuen und versuchen, das Ungetüm zu töten, uns wird kein Erfolg beschieden sein, denn die Bestie ist nicht von dieser Welt; sie ist Gottes Instrument der Bestrafung, und solange wir unsere Strafe nicht in vollem Umfang erhalten haben, ist das Biest für unsere Waffen unerreichbar. Keine Klinge wird es je verletzten, keine Kugel es je zu Fall bringen, keine Falle es je einfangen. Die Bestie ist wie Nebel, nicht fasslich und doch so greifbar, dass es unmöglich ist, sie zu leugnen. Sie ist Gottes Instrument der Strafe für uns. Doch Er bestraft uns nicht wirklich, sage ich euch; nein, Gott ist gütig und barmherzig. Er bestraft uns nicht, sondern er stellt uns auf die Probe, meine Kinder.“

„Hallelujah“, murmelten zwei oder drei Männer im Schankraum leise, fast andächtig, während Salieri einen großen Schluck aus seinem Krug nahm, sich mit der flachen Hand den Schaum aus dem wild wuchernden weißen Bart wischte und seine Predigt voller Leidenschaft fortsetzte.