Выбрать главу

„Dies ist eine Prüfung Gottes!“, donnerte er und ging weiter im Schankraum umher, alle Augen auf sich wissend. „Eine Prüfung unserer Standhaftigkeit und unseres Glaubens. Gott will, dass wir Ihm zeigen, dass wir glauben; dass wir uns wieder zu Ihm und Seinen Idealen bekennen und den Sünden der Vergangenheit entsagen, all dem Neid und der Missgunst und der verderbten Fleischeslust, die unsere Seelen befallen haben wie ein Krebsgeschwür. Meine Brüder, wir müssen dieses eiternde Geschwür rausreißen ...“ Bei diesen Worten schlug er sich mit der geballten Faust auf die Brust und riss wuchtig ein imaginäres Etwas aus seinem Leib, das er trotzig vor sich hielt, unsichtbar und doch so plastisch beschrieben, dass jeder der Anwesenden es in seiner Hand zucken zu sehen glaubte. „Wir müssen dieses Geschwür aus unseren Leibern und aus unseren Seelen und aus unser aller Leben reißen, um Gott dem Allmächtigen zu zeigen, dass wir unsere Lektion gelernt haben! Und um das zu tun, müssen wir Gott das größte Opfer bringen, das ein Mensch nur bringen kann, so wie Abraham es einst auf dem Berg mit seinem Sohn Isaak tat, um Gott seinen Gehorsam zu zeigen. Nur so können wir uns von dieser unserer Schuld reinwaschen – indem wir Gott aus freien Stücken und ohne Reue das geben, was er sich selbst durch die Bestie mit Gewalt holen würde!“ Er verstummte, schnaufend von seiner Ansprache, und trank gierig den Rest des Biers, das noch in seinem Krug war.

Im Schankraum war es still wie auf einem Friedhof; es schien, als wage es niemand auch nur zu atmen. Die Welt schien erstarrt, alle Augen waren auf den Priester gerichtet. Selbst der Rauch der vielen Pfeifen schien in der Luft zu reglosen Nebelschwaden erstarrt. Endlose Sekunden lang sagte niemand ein Wort, als ob die Anwesenden darauf warteten, dass Salieri seine Predigt fortsetzte. Doch der Priester hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte, und er gab sich damit zufrieden, keuchend in ihrer Mitte zu stehen. Dabei strahlte er eine seltsame Aura von Respekt, Furcht und göttlicher Vorsehung aus, wie die Statue eines legendären Helden auf einem Marktplatz, zu der die Menschen voller Ehrfurcht aufsahen. Sein Blick glitt wild in die Runde, und dann sah Salieri hinüber zum Ecktisch und starrte Zara mit diesen durchdringenden graublauen Augen an, die sie zu sezieren schienen wie ein Paar scharfe Klingen. Im Licht der Lampen blitzte ein goldener Siegelring am Ringfinger seiner rechten Hand, ein imposanter Ring aus massivem Gold mit einer eingelassenen Siegelplatte, doch Zara konnte das Motiv aus der Entfernung nicht erkennen.

Sie wunderte sich über die Worte des Priesters. Ihres Wissens lehnte gerade seine Religion Menschenopfer ab, und soweit sie sich erinnerte, hatte Abraham seinen Sohn Isaak auch nicht geopfert, denn sein Gott hatte vorher eingegriffen und statt des Menschenopfers das Blut eines Tiers verlangt. Deshalb kamen ihr die Worte des Priesters mehr als seltsam vor.

Doch sie schienen auf die Menschen von Moorbruch ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Noch immer war es still im Schankraum, bis jemand plötzlich ehrfürchtig raunte: „Hallelujah!“ Und noch einmal, ein wenig lauter: „Hallelujah!“

Zögerlich wurden weitere Stimmen laut, die mit einstimmten. „Hallelujah!“, raunte der Mann am Tisch zwischen dem von Zara, kippte seinen Fusel mit einem Zug hinunter und sagte dann lauter: „Hallelujah!“ Der Kerl neben ihm stimmte ebenfalls mit ein, und dann murmelten plötzlich Dutzende Stimmen im Schankraum „Hallelujah!“, erst leise und zurückhaltend, dann immer lauter und leidenschaftlicher, und mit jeder weiteren Stimme und jedem weiteren „Hallelujah!“, das aus drei Dutzend Kehlen schallte, veränderte sich die Stimmung im Schankraum zusehends. Zuvor waren die Menschen voller Furcht, Trauer und Hoffnungslosigkeit gewesen, doch je lauter die Rufe wurden, desto mehr wurden aus Angst und Trauer Wut und Zorn, und als der Erste aufsprang, sein überschwappendes Glas in die Luft stieß und aus voller Kehle „Hallelujah!“ brüllte, stimmten nach und nach weitere Kehlen in den Ruf ein, bis der Schankraum schließlich widerhallte vom kollektiven Glaubensausruf der Versammelten. Und Salieri stand in ihrer Mitte, wuchtig und stoisch wie ein Fels in der Brandung, und hatte Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. So viel Gottesfürchtigkeit, wie sie einem jetzt hier entgegenschlug, hatte er bei den Messen in seiner Kirche wohl noch nie erfahren.

Die Menschen wollten glauben, dass Salieri Recht hatte.

Sie wollten glauben, dass all dies der Wille einer höheren Macht war. Dass man das Böse besiegen konnte, indem man einfach zu Gott fand – oder zumindest so tat – und Ihm ein Opfer darbrachte, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Natürlich, es war ja auch viel einfacher, das Ganze als etwas Gottgegebenes anzusehen, als sich einzugestehen, dass sie die Bestie aus eigener Kraft nicht loswurden, dass die Bestie nur deshalb immer wieder neue Opfer fand, weil die Einwohner von Moorbruch unfähig waren, ihre Lieben wirkungsvoll zu schützen und dem Ungeheuer habhaft zu werden.

Zara konnte die Menschen einfach nicht verstehen – nicht nur die hier in Moorbruch, sondern die Menschheit insgesamt. Wenn alles seinen normalen Gang ging und jeder sein Auskommen hatte, verschwendete niemand auch nur einen Gedanken an Gott und war bereit, nach dessen Gesetzen zu leben. Doch sobald die Dinge aus der Bahn gerieten und sich der Kontrolle der Menschen entzogen, fielen sie auf die Knie und beteten so inständig um göttlichen Beistand. Gott war für sie nur dann eine Option, wenn sie selbst nicht mehr weiterwussten.

Das schien auch Bürgermeister von der Wehr so zu sehen, der in diesem Moment aus der Nische trat, in der zuvor auch Salieri gesessen hatte, in die Mitte des Raumes kam und in einer beschwichtigenden Geste die Arme hob. „Meine Freunde!“, rief er, nach besten Kräften bemüht, den Tumult im Schankraum zu übertönen, was ihm jedoch kaum gelang. „Meine Freunde, so hört mich an! Egal, wie sehr ihr trauert oder wie verzweifelt ihr seid, so dürft ihr doch nicht aus den Augen verlieren, dass wir überhaupt nicht wissen, womit wir es hier zu tun haben. Salieri und seine Gottesfürchtigkeit in allen Ehren, aber wir wissen nichts über die Bestie – nicht das Geringste! Wir wissen nicht, ob Gott uns die Bestie geschickt hat oder der Teufel, oder ob es einfach nur eine Plage der Natur ist, die sich mit Schwert und Feuer ausrotten lässt! Und solange wir nicht wissen, mit was wir es eigentlich zu tun haben, sollten wir nicht hingehen und uns zu Dingen aufstacheln lassen, die wir hinterher womöglich bitterlich bereuen!“ Er versuchte, seine Worte eindringlich und überzeugend klingen zu lassen, doch selbst in seinen eigenen Ohren musste sich seine Ansprache fad und abgedroschen anhören.

„Du hast gut reden, Bürgermeister!“, rief ein älterer dicker Mann an der Theke, die Wangen über dem krausen, wild wuchernden Vollbart von einem Gitterwerk feiner roter Äderchen durchzogen. „Du hast ja noch beide Töchter!“

Andere Männer stimmten lautstark in diesen Widerspruch ein.

„Und gerade deshalb“, rief von der Wehr über den Tumult hinweg, „gerade deshalb will ich wie jeder andere hier, dass die Bestie so rasch wie möglich in ihrem blutigen Treiben gestoppt wird, bevor es weitere Opfer zu beklagen gibt! Denn es gibt noch viele Familien im Ort, denen dieses Schicksal bislang erspart blieb, und auch wenn es herzlos klingen mag, sollten wir alles daransetzen, dass es so bleibt, und all jener gedenken, die dieses Glück nicht hatten. Doch so ein Opfer“, der Bürgermeister hatte Mühe, die wütenden Zwischenrufe der aufgebrachten Menge zu übertönen, „ein Opfer wie das, das Salieri fordert, kann nicht die Lösung sein! Wir wissen nicht, ob dies hier wirklich Gottes Werk ist; es kann genauso gut das Wirken des Teufels sein oder irgendeiner anderen garstigen Kreatur, oder die Bestie ist tatsächlich nichts weiter als ein tollwütiges Tier, das uns bislang nur mit Glück durch die Fänge geschlüpft ist. Doch was ihr da verlangt – was Salieri verlangt – kann nicht die Lösung sein!“ Er warf dem Priester einen Blick zu, in dem sich Wut und der Wunsch nach Hilfe die Waage hielten, doch wenn er gehofft hatte, Salieri würde einlenken, dann lag er falsch; der Priester stand einfach nur stoisch inmitten seiner Anhänger, mit unbewegter Miene, und gab sich im Stillen dem Gefühl des Triumphs hin.