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„Wenn es Gottes Wille ist“, rief der Wirt von der Theke herüber, „dann müssen wir uns Seinem Willen beugen, um noch größeres Unheil von uns und den unseren abzuwenden. Gerade du, von der Wehr, solltest der Erste sein, der jede Möglichkeit in Betracht zieht, um uns von diesem Übel zu erlösen! Immerhin bist du unser Bürgermeister, und das Wohl der Gemeinde sollte für dich an erster Stelle stehen, noch vor deiner Familie und allem anderen, was dir lieb ist. Stattdessen stellst du dich hin und verlangst von denen, die Kinder und Frauen und Schwestern verloren haben, ebenso wie von denen, denen dieses Schicksal noch droht, nichts zu tun. Nichts zu tun! Als würde Nichtstun die Bestie aufhalten!“

Zustimmende Rufe, zorniges Gemurre.

Ein Mann trat aus der zweiten Reihe nach vorn, den Arm um die Schulter einer jungen Frau in Männerkleidung gelegt. „Das ist Tyra, meine jüngste Tochter“, sagte er, den Tränen nahe.

„Ihre Schwester wurde von der Bestie zerfleischt. Sie war noch keine achtzehn. Und nun soll ich riskieren, dass mir auch noch meine zweite Tochter genommen wird, das Letzte, das mir geblieben ist im Leben?“ Er zog das Mädchen dichter an sich und schüttelte den Kopf. „O nein, Bürgermeister, das werde ich nicht zulassen. Soll jemand, der in diesem Winter des Niedergangs noch niemanden verloren hat, ein Opfer bringen, wenn Gott so besänftigt und die Bestie vertrieben werden kann. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, damit das Morden endlich ein Ende findet!“

Die anderen Männer stimmten dem lautstark zu. Die Stimmung im Schankraum wurde zunehmend gereizter, und das Gemurre nahm von Sekunde zu Sekunde zu, doch Bürgermeister von der Wehr ließ sich davon nicht beirren.

„Ich weiß, dass dies keine leichte Bürde ist“, sagte er beschwichtigend, „aber auch wenn dies hier keine Prüfung am Glauben ist, so ist es doch ohne Frage eine Prüfung unserer Vernunft, und unsere Vernunft ist es, die uns vom Tier unterscheidet. Also lasst uns auf diese Vernunft vertrauen und nichts überstürzen! Lasst uns nichts tun, das wir hinterher bereuen könnten, ich bitte euch!“ Er schaute sich Hilfe suchend und ein wenig verloren im Schankraum um, in der Hoffnung, ihm würde von irgendeiner Seite Unterstützung zuteil werden. Doch niemand stand ihm bei, nicht einmal sein eigen Fleisch und Blut, denn statt ihrem Vater beizupflichten, murmelte Anna am Ecktisch neben Zara mit abschätziger Stimme: „Schwätzer.“ Sie griff nach der Flasche und schenkte sich noch ein Glas voll. „Dummes Geschwätz“, murmelte sie, „nichts weiter.“

„Anna!“, raunte Wanja entsetzt.

Anna warf ihr einen wütenden Blick zu. „Ist doch wahr“, blaffte sie. „Unser Vater ...“ Sie spie das Wort aus wie einen Brocken faules Fleisch. „Wie kann er sich einfach hinstellen und Vernunft predigen, indes das Ungetüm draußen womöglich bereits auf der Jagd nach dem nächsten Opfer ist?“

„Weil er weiß, wohin das hier führt“, sagte Zara bedächtig, den Blick auf Anna gerichtet. „Offenbar begreift Ihr nicht, worum es hier geht, junges Fräulein. Euer Vater versucht, die Menschen davon abzuhalten, selbst zu Bestien zu werden. Der Trunkenbold von einem Priester verlangt, dass sie das opfern, was sie am meisten lieben, genau wie Abraham, dem sein Gott einst auftrug, auf dem Berg in Kanaan seinen einzigen Sohn Isaak auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, um Gott so seinen Gehorsam zu zeigen.“

Anna runzelte die Stirn. Mit einem Mal verschwand der aggressive Ausdruck aus ihren Augen und machte echter Besorgnis Platz. „Ihr meint...“

Zara nickte. „Ein Blutopfer“, sagte sie. „Aufs Geratewohl und ohne zu wissen, ob sich dadurch irgendetwas ändern wird.“ Noch immer betrachtete sie Anna mit durchdringendem Blick. „Wie ist es? Stellt Ihr Euch für diese wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe zur Verfügung? Freiwillig?“

Anna starrte Zara mit großen Augen an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und schloss den Mund, um stattdessen mit furchtsamer Miene den Blick durch den Raum schweifen zu lassen, wo die zechenden Männer und Frauen allmählich in einen regelrechten Rausch gerieten. Der Bürgermeister versuchte zwar geradezu verzweifelt, gegen den Tumult anzurufen und die Leute zur Vernunft zu bringen, doch niemand achtete mehr auf ihn, als wäre er gar nicht da, und auch Salieri machte keine Anstalten, die aufgehetzte Meute zu beruhigen, die voller Inbrunst darüber diskutierte, ob ein Blutopfer die Bestie tatsächlich zur Räson bringen könnte oder nicht; während sich die eine Hälfte der Gäste dafür aussprach, war sich die andere Hälfte – nämlich diejenigen, die bislang noch keinen Angehörigen durch die Bestie verloren hatten – da nicht so sicher, doch von der Hand weisen wollte die Möglichkeit niemand, und so peitschte sich die Stimmung immer mehr auf, bis Zara, Falk und die anderen am Ecktisch Mühe hatten, bei all dem Tumult ihre eigenen Gedanken zu verstehen.

Zara kam eine andere Winternacht in einem anderen Jahr in den Sinn, nicht weit von hier, und Bilder von wild schreienden Gesichtern und mit Fackeln herumfuchtelnden Männern zuckten flüchtig durch ihre Erinnerung. Verbrennt das Monster!, gellte eine Stimme in ihrem Verstand – eine Stimme, die schon vor sehr, sehr langer Zeit verstummt war, zum Schweigen gebracht von ihrer Hand. Fackelt das Monster ab!

Zara stöhnte und verbannte die Stimme aus ihren Gedanken, sperrte sie in den dunklen Kerker ihres Unterbewusstseins und stürzte hastig noch einen Schnaps hinunter, während sich Bürgermeister von der Wehr immer noch bemühte, die Leute zu beruhigen. Doch seine Stimme verhallte ungehört und unbeachtet, und Zara erkannte, dass er keineswegs die Respektsperson war, die er gern gewesen wäre. Niemand hier hatte sonderlich große Achtung vor ihm; er bekleidete vielleicht ein öffentliches Amt, doch vermutlich hatte er den Posten – wie in vielen Gegenden von Ancaria üblich – von seinem Vater geerbt, ohne dass die Einwohner von Moorbruch irgendein Mitspracherecht darüber gehabt hatten. Dass er offensichtlich wohlhabender war als viele andere, die kaum wussten, wie sie über den Winter kommen sollten, und bis jetzt noch keine Tochter durch die Bestie verloren hatte, trug nicht eben dazu bei, sein Ansehen bei den einfachen Leuten zu steigern. Die spalteten sich nun zunehmend in zwei Lager, die nicht mehr gegeneinander anredeten, sondern brüllten, und spätestens, als einer der Männer einem anderen ohne Vorwarnung den Inhalt seines Bierkrugs ins Gesicht schüttete, wusste Zara, dass die Lunte fast abgebrannt war.

Nur noch wenige Augenblicke, und das Sprengfass würde explodieren ...

Zara wandte sich an Jahn. „Wir sollten von hier verschwinden“, sagte sie laut, um den Tumult zu übertönen. „Bring die Mädchen hier raus. Hier wird es gleich recht ungemütlich.“

Jahn nickte und griff nach Wanjas Arm. Hinter ihm begann der Mann, dem das Bier von den nassen Haaren tropfte, wütend zu schreien, und er schmetterte dem anderen seinen Krug gegen den Kopf. Es krachte hohl, Tonscherben und Bier regneten herab. Der getroffene Mann schrie auf, taumelte benommen zur Seite und krachte mit blutiger Stirn gegen die Theke, der Blick wild und irre.

Er wollte sich gerade mit einem wütenden Keuchen auf den Angreifer stürzen, als plötzlich die Tür der Schenke wuchtig nach innen aufschwang und eine große, stattliche Gestalt in einem edlen Anzug und einem weiten dunklen Umhang über die Schwelle trat. Der Schatten fiel in den Schankraum, lang und dunkel, und obgleich der Mann keinen Ton von sich gab, sondern einfach nur im Türrahmen stand, geschah etwas über alle Maßen Seltsames.