Verfolgt vom Trappeln schneller, krallenbewehrter Pfoten, lief Svenja aus dem Schatten des Teufelsfelsens heraus und auf den Waldrand zu. Dahinter lagen die Hütten und Häuser von Moorbruch. Sie presste eine Hand fest in ihre Hüfte, um das Seitenstechen zu lindern, doch ohne Erfolg; die Pein, die sich bei jedem Schritt durch ihren Leib fraß, trieb ihr die Tränen in die Augen. Alles, woran sie denken konnte, war, dass sie leben wollte; sie wollte ihr kleines bescheidenes Leben im Kreise ihrer Familie führen, denn gleichgültig, wie armselig und hart das auch war, es war immerhin ein Leben und damit allemal besser als der Tod. Alles war besser als der Tod ...
Vor ihr tauchten aus dem Zwielicht der Abenddämmerung die Lichter von Moorbruch auf, verschwommene Flecken aus Helligkeit vor dem dunklen Hintergrund des Waldes. Nur noch vierhundert Meter, dann hatte sie es geschafft, bloß noch vierhundert Schritte ...
Hinter ihr wurde der rasselnde Atem ihres Verfolgers immer lauter. Jetzt war das Geräusch der trappelnden Pfoten dicht hinter ihr, und obwohl ihr Verstand ihr befahl, es nicht zu tun, warf die junge Frau beim Laufen einen flüchtigen Blick über die Schulter – genau in dem Moment, als sich der wuchtige, gedrungene Schatten des Dings hinter ihr vom Boden löste und einen riesigen Satz nach vorn machte. Plötzlich war die Kreatur nur noch zehn Schritte hinter ihr, beinahe so groß wie ein Bär, und als das Wesen erneut mit einem aggressiven Knurren zum Sprung ansetzte, wurde Svenja mit grauenvoller Klarheit bewusst, dass sie nicht entkommen würde, egal, wie schnell sie lief.
Sie hatte Recht.
Als die Lichter von Moorbruch noch dreihundert Schritte entfernt waren und sich am Rande des Orts bereits die Umrisse von Svenjas Heim aus dem Dämmerlicht schälten, schwoll das dumpfe Knurren der Kreatur zu einem lauten hungrigen Fauchen an. Svenja glaubte, einen warmen, nach altem Fleisch stinkenden Atemhauch im Nacken zu spüren. Dann nahm sie einen leichten Luftzug wahr, als das Ungetüm direkt hinter ihr auf dem Boden aufsetzte. Im nächsten Augenblick traf sie ein brutaler Hieb in den Rücken, der ihr schlagartig alle Luft aus ihren pfeifenden Lungen trieb. Sie hatte nicht einmal mehr Atem zu schreien, als sie wie eine Strohpuppe nach vorn geschleudert wurde.
Der Aufprall war hart. Ihr verschwitztes Antlitz presste sich schmerzhaft in die feuchte, stinkende Moorerde neben dem Pfad, und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Benommen wälzte sich Svenja auf den Rücken, nur halb bei Sinnen. Torf und Kiefernnadeln klebten auf ihren schmutzigen Wangen, in die ihre Tränen weiße Bahnen des Kummers wuschen. Durch einen trüben roten Schleier starrte sie zum Himmel empor, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar genug im Kopf war, um sich zu erinnern, was vorging, und gemeinsam mit der Erinnerung schwappte die Hysterie über sie hinweg wie eine dunkle, alles mit sich fortreißende Woge.
Panisch richtete sich Svenja auf und spähte in die Dunkelheit, während sie, noch halb am Boden liegend, auf allen vieren rückwärts krabbelte. Ihre weit aufgerissenen Augen glitten suchend hin und her; die Furcht zerriss den Nebel der Benommenheit und schärfte ihre Sinne, doch die Kreatur war nirgends zu sehen.
Der Pfad lag verlassen da.
Svenja ließ ängstlich den Blick schweifen, aber von dem Wesen, das sie eben angegriffen hatte, fehlte jede Spur. Zögernd fasste die junge Frau wieder Hoffnung. Vermutlich hatte die Nähe von Moorbruch das Geschöpf verjagt oder irgendetwas anderes, doch egal, was es gewesen sein mochte, Svenja war dankbar dafür.
Sie rappelte sich hastig auf, wandte sich um – und sah gerade noch, wie eine riesige Pranke auf sie zuschoss.
Es war das Letzte, was die junge Frau in ihrem Leben sah. Sie schaffte es nicht einmal zu schreien ...
Dafür erhob sich die Kreatur über ihrem Opfer, legte den massigen Schädel weit zurück in den Nacken und heulte den Mond an, ein schauerliches, düsteres Triumphgeheul, das wie ein unheilvolles Vorzeichen über das Land hallte und verkündete, dass der Tod nach Moorbruch gekommen war, um jene mit sich zu nehmen, die für Größeres bestimmt waren.
Der Winter der Bestie war angebrochen ...
1. Teil
Hohenmut
I.
Der Geruch des Todes, der über dem Feld lag, war schwer und überwältigend – erdig, bitter und dennoch von verstörender Süße. Rauch waberte wie Nebel über dem Boden, gespeist von den brennenden Leibern der Krieger, die auf diesem Flecken Erde ihr Leben gegeben hatten, jeder für seine eigene Sache. Als sie noch lebten, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können, doch nun, im Tode, waren sie zu Brüdern geworden und lagen dicht an dicht zwischen qualmenden Heuschobern und den Kadavern ihrer Pferde, aus denen Dutzende von Pfeilen staken wie Stacheln aus dem Rücken eines Igels. Es war unmöglich zu sagen, wie viele Opfer diese Schlacht gekostet hatte, doch es war, als bestünde der Boden bis zur Burg Mhurag-Nar, die in der Ferne als düsteres Mahnmal einem gigantischen Grabstein gleich in die Morgendämmerung ragte, aus nichts als toten Körpern, ein endloser Teppich aus Leichen, an denen sich hier und da bereits die Krähen gütlich taten, deren gieriges Krächzen die allmählich weichende Nacht erfüllte wie das kranke Echo längst verhallter Schreie.
Zara ließ den Blick über das Schlachtfeld zum Horizont schweifen, vor dem sich Mhurag-Nar mit seinen Türmen und Zinnen klar umrissen abhob, eine Festung aus massivem Stein, vor Tausenden von Jahren von den Dunkelelfen errichtet, bedrohlich und stoisch, scheinbar unbezwingbar. Doch dieser Eindruck täuschte, denn der Rauch, der in dichten Schwaden von der Burg aufstieg und in einer senkrechten Wolke gen Himmel quoll, erzählte eine andere Geschichte. Nach mehr als sechzig Tagen der Belagerung war Mhurag-Nar letzte Nacht endlich gefallen, und mit der Festung unzählige Menschen und Zwerge, die dem Ruf ihres Königs Aarnum I. gefolgt waren, um Ancaria ein für alle Mal vom Terror der Dunkelelfen zu befreien. Gleichwohl, der Preis für diesen Befreiungsschlag war hoch, nicht nur für die Gefallenen, sondern auch für all jene, die das Glück hatten, das Gemetzel der letzten Schlacht, die drei Tage und Nächte währte, zu überleben. Denn egal, wer sie gewesen sein mochten, egal, woher sie stammten oder welchen Standes sie waren – das, was sie hier gesehen und erlebt hatten, veränderte sie für immer.
Auch Zara spürte, dass sie nicht mehr die war, als die sie in diesen Krieg gezogen war, voller Enthusiasmus und Tatendrang und überzeugt davon, es würde ihrer Familie zur Ehre gereichen, wenn sie ihrem Land und ihrem König zu Diensten war. Diese Gedanken waren längst vergessen, fortgewaschen von dem Blut, das ihre Rüstung besudelte, schwarzrote Schlieren ausgelöschten Lebens. Die Klinge ihres Schwerts, einst makellos schön und sauber, war voller kleiner Kerben; dem dreifach gefalteten Stahl war es gleich, ob er durch Knochen oder Holz schnitt, so wie es Zara gleich geworden war in jener Nacht, in der sich alles, an das sie je geglaubt hatte, mit jedem Kameraden, der neben ihr fiel, in Blut und Tränen aufgelöst hatte. Der Krieg war nicht so, wie Zara ihn sich vorgestellt hatte. Ganz und gar nicht.
Zaras Blick war leer und in sich gekehrt, ebenso tot wie der Dunkelelf, der zu ihren Füßen lag, die dunklen, fast pupillenlosen Augen weit aufgerissen, die langen, spitzen Zähne selbst im Tode noch zu einem angriffslustigen Fauchen gefletscht. Während die Sonne allmählich höher stieg und der helle Schein der Dämmerung wie ein Vorhang aus Licht über das Schlachtfeld zog, stand Zara da und rührte sich nicht. Erst, als eine junge Frau mit einem Kopftuch, in die Gewänder einer Dienstmagd gehüllt, in ihrer Nähe den Leichnam ihres Liebsten entdeckte, sich in den Schmutz warf und den Toten laut jammernd in den Armen wog, schüttelte Zara ihre Lethargie ab.