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Beinahe synchron ruckten alle Köpfe zur Tür, und ebenso schlagartig wurde die aufgebrachte Menge leiser. Aus wildem Gebrüll wurde ein respektvolles Murmeln und Raunen, und selbst die beiden Streithähne an der Theke vergaßen einander.

Der Mann unter dem Türsims strahlte eine Präsenz und eine Stärke aus, die auch Zara in ihrem Leben noch nicht bei vielen Menschen verspürt hatte. Allein seine Gestalt war schon imposant: Der Mann füllte den Türrahmen fast bis zur Gänze, und zwar in der Höhe und der Breite. Er maß mindestens zwei Meter vom Scheitel bis zur Sohle, die Schultern breit wie ein Schrank, die Hände groß wie Schaufeln. Das Gesicht unter dem breitkrempigen Hut mit der Pfauenfeder war markant und männlich, mit einem leicht hervorspringenden Kinn, intelligenten braunen Augen und einem gepflegten, kurz geschnittenen Vollbart.

Bürgermeister von der Wehr witterte unvermittelt Morgenluft und ging mit einem erleichterten Lächeln auf den Neuankömmling zu, um ihm demonstrativ die Hand auf den Arm zu legen. „Ah, Landgraf Gregor D’Arc!“, begrüßte er den Hünen ehrfürchtig. „Gut, Euch zu sehen, Graf! Tretet ein und sagt den guten Leuten hier, dass es in Zeiten wie diesen nicht ratsam ist, sich zu streiten, statt Seit’ an Seit’ gegen den gemeinsamen Feind zu stehen! Sagt ihnen, dass es nicht die Lösung sein kann, freiwillig das zu geben, was die Bestie sich sonst mit Gewalt holt.“ Seine Worte waren nichts anderes als ein Hilferuf; die Bitte, dass Gregor D’Arc, dieser Ehrfurcht gebietende Mann, ihn dabei unterstützte, die Meute zu bändigen, wozu er allein nicht imstande war. Er sah Gregor fast flehentlich an, eine Hand auf seinem Arm, und genau so, wie der Bürgermeister Gregor fast flehentlich ansah und auf seine Reaktion wartete, ruhten auch die Augen aller anderen im Schankraum auf dem Landgrafen.

Einen endlosen Moment lang stand der Edelmann einfach nur da. Dann sagte er mit ruhiger, volltönender Stimme: „Eine Treibjagd. Wir werden morgen eine Treibjagd abhalten, um die Bestie zur Stecke zu bringen.“

„Aber das haben wir schon zwei Mal getan!“, warf einer der Männer ein. „Und es hat nichts gebracht!“

Beifälliges, jedoch respektvolles Gemurmel.

„Diesmal wird es anders sein“, versicherte der Adelige. Er löste sich aus dem Türrahmen und trat in den Raum, umweht von Schneeflocken, die durch die offene Tür hereindrangen. Seine schweren Stiefel dröhnten bei jedem Schritt auf dem Holzboden. Er zog seine Lederhandschuhe aus und steckte sie in die Tasche. „Es wird die größte Treibjagd sein, die Moorbruch je gesehen hat. Jeder Mann, der imstande ist, eine Waffe zu halten, wird mitkommen; wir werden unzählige Treiber haben, Hunde und Pferde, mein gesamtes Personal. Wir werden bei Sonnenaufgang aufbrechen und den ganzen Wald durchkämmen, Meter für Meter. Wir werden jeden Winkel absuchen, so gründlich, wie wir es noch nie getan haben. Außerdem sind wir jetzt nicht mehr auf uns allein gestellt – wir haben heute Hilfe bekommen.“ Bei diesen Worten warf er Zara durch den überfüllten Schankraum hinweg einen Blick zu, so durchdringend, dass sie sich unangenehm berührt fühlte. „Hoffen wir also, dass wir die Bestie mit vereinten Kräften endlich zur Strecke bringen. Und falls nicht ...“ Er schnalzte mit der Zunge. „Nun, dann haben wir einen Tag verschwendet. Und was ist schon ein Tag?“ Er wandte den Blick von Zara ab, ohne zu lächeln, und ließ ihn in die Menge schweifen. „Das ist alles, worum ich euch bitte“, sagte er. „Ein einziger Tag für eine einzige, letzte Jagd.“ Er sah in die Runde. „Nun, was sagt ihr?“

Die Männer im Schankraum sahen einander an, und allein der Respekt, den sie für Gregor D’Arc empfanden, sorgte dafür, dass die Aggression und die Wut aus ihren Mienen verschwanden. Einer nach dem anderen kratzte sich verlegen am Kopf und nickte und bekundete seine Zustimmung. Er hatte Recht: Was spielte ein Tag mehr oder weniger für sie schon eine Rolle? Zumal eine Treibjagd so gut oder so schlecht war wie alles andere, was sie tun konnten; im schlimmsten Falle war sie Zeitverschwendung.

So waren alle mit D’Arcs Vorschlag einverstanden, und spätestens, als der Landgraf verkündete, für den Rest des Abends gingen alle Getränke auf seine Rechnung, war von der aufgeheizten, wilden Stimmung, die hier zuvor geherrscht hatte, nichts mehr zu spüren. Stattdessen saßen die Menschen zusammen an den Tischen, tranken auf Gregors Kosten, unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, wie um ihren Gönner nicht zu belästigen, und gaben sich der stillen Hoffnung hin, der morgige Tag möge die Erlösung bringen. Von Salieri war nichts mehr zu sehen; sobald D’Arc aufgetaucht war, hatte er sich nach einem durchdringenden Blick auf den Edelmann wieder in seiner Nische verkrochen.

Der Bürgermeister fasste den Edelmann leicht am Arm. „Danke“, raunte von der Wehr Gregor so leise ins Ohr, dass niemand der Umstehenden es hören konnte, doch Zara hatte scharfe Ohren. „Danke, Ihr habt mich gerettet.“

„Ihr ahnt gar nicht, wie Recht Ihr damit habt, Reinhard“, erwiderte der Landgraf, ohne den Bürgermeister anzusehen; sein Blick war wieder auf Zara gerichtet. Schließlich kam er mit großen Schritten herüber zum Ecktisch und blieb davor stehen. Die Damen nickten höflich und respektvoll, und Gregor dankte es ihnen mit einem kleinen Lächeln, ehe er sich an Zara wandte.

„Nun?“, sagte Gregor D’Arc, ohne sich damit aufzuhalten, sich ihr offiziell vorzustellen; vielleicht, weil er es nicht für nötig hielt, oder weil er vorhatte, dies zu einem passenderen Zeitpunkt nachzuholen. „Die Meute scheint es kaum abwarten zu können, ein weiteres Mal Jagd auf die Bestie zu machen, voller Hoffnung, sie diesmal zu erwischen. Und wie ist es mit Euch, meine Liebe? Was haltet Ihr von der Jagd?“ Erneut bedachte er Zara mit einem durchdringenden Blick, der versuchte, hinter ihre Maske zu blicken, doch das war nur den wenigsten vergönnt, und der Landgraf gehörte nicht zu diesem elitären Zirkel.

Zara wich seinem taxierenden Blick nicht aus, sondern sah Gregor direkt in seine gletscherblauen Augen. „Die Jagd kann durchaus eine Freude sein“, erwiderte sie. „Zumindest, solange beide Fraktionen wissen, wer der Jäger ist und wer der Gejagte.“

Gregors Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. „Das“, sagte er orakelhaft und sah Zara tief in die Augen, „werden wir wohl spätestens morgen Abend wissen, wenn die Jagd vorüber ist...“

XIII.

„Dieser Gregor D’Arc“, sagte Falk einige Zeit später, als sie in ihrem Quartier in ihren schlichten, knarrenden Betten lagen, eins an der Wand neben der Tür, das andere beim Fenster, „ist ein beeindruckender Mann, nicht wahr?“

Zara, die komplett angezogen auf dem Bett nahe des Fensters lag, warf ihm im Dunkeln einen Blick zu; obwohl die Wolken den Mond verdeckten und man allenfalls die diffusen Silhouetten der Möbelstücke erahnen konnte, konnte sie Falk so deutlich in seinem Bett liegen sehen, als wäre es helllichter Tag. Sie lag an das Kopfteil des Betts gelehnt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Zumindest eine größere Respektsperson als der Bürgermeister“, erwiderte sie.

Falk lachte in der Dunkelheit, doch es lag keine Fröhlichkeit darin. „Wohl wahr, wohl wahr“, brummte er. „Nicht auszudenken, wenn er nicht aufgetaucht wäre. Dann hätten diese betrunkenen Bauerntölpel womöglich noch ein Blutband unter ihresgleichen angerichtet.“

Zara zuckte mit den Schultern. „Solange sie sich nur selbst umbringen und mich in Ruhe lassen, soll es mir recht sein.“ Es klang kalt und unbarmherzig, doch Falk lachte leise, als hätte sie einen Scherz gemacht.

„Du musst mir nichts vormachen, meine Liebe“, entgegnete er fröhlich. „Wir wissen beide, dass du nicht halb so hartherzig bist, wie du immer tust – wenn dem wirklich so wäre, wärst du nämlich nicht hier.“ Darauf wusste Zara nichts zu erwidern, und das war auch gar nicht nötig, denn Falk kehrte ohne Übergang zum ursprünglichen Thema zurück. „Ich habe gesehen, wie er dich angesehen hat. Einen Moment lang dachte ich, er fällt gleich an Ort und Stelle über dich her, so hat er dich angestarrt.“