„Wer über mich herfällt, entscheide ganz allein ich“, gab Zara betont gleichmütig zurück, bemüht, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Doch natürlich wusste sie, dass Falk Recht hatte; ihr waren die durchdringenden Blicke von Gregor D’Arc auch nicht entgangen, der sich, nachdem das kurze Gespräch zwischen ihnen beendet gewesen war, ein paar Tische weiter zu einigen Männern gesetzt und dort in aller Ruhe eine Flasche Wein geleert hatte. Über sein Glas hinweg hatte er immer wieder zu ihnen herübergeschaut, und die Art, wie er Zara angesehen hatte, ging über bloße Neugierde hinaus. Doch angelächelt hatte er sie nicht, daher konnte sie sich keinen Reim auf D’Arcs Verhalten machen. Eins wusste sie allerdings genau: Es konnte nicht schaden, Gregor D’Arc auf ihrer Seite zu haben. Offenbar genoss er bei den Einwohnern von Moorbruch den Respekt, für den sich Bürgermeister von der Wehr sämtliche Finger der linken Hand abgetrennt hätte. Im besten Fall machte das Gregor D’Arc zu einem brauchbaren Verbündeten, im schlimmsten Fall jedoch zu einem mächtigen Gegner, der ihnen hier in Moorbruch gehörig in die Suppe spucken konnte. Aus diesem Grund erschien es ihr wichtig, diesen vornehmen Herrn im Auge zu behalten. Wer weiß, vielleicht ergab sich morgen bei der Treibjagd ja die Gelegenheit, unter vier Augen ein paar Worte zu wechseln ...
Falk schreckte sie aus ihren Gedanken auf. „Was meinst du, kriegen wir die Bestie morgen zu fassen?“
Zara wiegte den Kopf, auch wenn Falk es in der Dunkelheit nicht sehen konnte. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Ich gehe zwar davon aus, dass die Bestie hier irgendwo in der Nähe von Moorbruch ein Versteck hat, in das sie sich tagsüber zurückzieht, aber bislang haben die Menschen hier trotz aller Bemühungen keine Spur von ihr entdeckt, und ich sehe eigentlich keinen Grund, warum es morgen anders sein sollte.“
„Ich schon“, sagte Falk. „Denn bislang warst du noch nicht da. Du bist den Bauern und Torfstechern hier haushoch überlegen. Ich bin sicher, dass es hier in der Gegend niemanden gibt, der es auch nur entfernt mit dir aufnehmen kann.“
„Du lässt dich von Oberflächlichkeiten täuschen“, sagte Zara. „Nur weil ich mich meiner Haut zu wehren weiß, heißt das noch lange nicht, dass ich unfehlbar und allen Fährnissen des Lebens gewachsen bin. Glaub mir, dem ist nicht so.“
„Aber zumindest tust du etwas; du versuchst, Dinge zu bewegen, zu verändern. Die Bauerntölpel hier schütten sich einfach nur den Kopf mit Schnaps zu, baden in ihrem eigenen Selbstmitleid und lassen sich von irgendwelchen Priestern dazu aufstacheln, aufs Geratewohl ihre eigenen Kinder zu opfern – oder besser: die ihrer Nachbarn, denn noch mehr eigenes Leid hinnehmen will trotz allem natürlich niemand.“ Aus dem Zwielicht, wo sich Falks Bett befand, kam ein verächtliches Schnauben. „Schon seltsam, wie ähnlich sich die Menschen in ihrem Wesen doch sind, egal, welchem Stand sie angehören, wo sie leben oder woher sie kommen. Am Ende haben alle lediglich ihren eigenen Vorteil im Sinn, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es ihren Mitmenschen dabei ergeht.“
„Und das ist eine neue Erfahrung für dich?“, fragte Zara, ein wenig erstaunt über so viel Naivität.
„Na ja“, erwiderte Falk, „eigentlich dachte ich bislang immer, nur ich wäre so und alle anderen wären anständige Menschen, voller Gottesfurcht und bestrebt, ihren Mitmenschen stets Gutes zu tun.“
Zara zog die Augenbrauen hoch. „Das meinst du jetzt nicht ernst!“
„Nein“, sagte Falk und lachte. „Aber es hilft einem, sich als etwas Besonderes zu fühlen.“
Zara starrte Falk durch den dunklen Raum hinweg durchdringend an, ehe sie müde den Kopf schüttelte und sich auf ihr Kissen zurücksinken ließ. Das Lattenrost unter ihr war hart, und hier und da fehlten auch Latten in dem hölzernen Gerippe, doch es war ein gutes Gefühl, nach so vielen Nächten, die sie im Freien verbracht hatte, endlich mal wieder in einem Bett zu schlafen, mit einer Decke und einem Kissen. Die waren zwar statt mit Gänsedaunen lediglich mit Stroh gefüllt, doch das war immer noch besser als die harte, kalte Erde, auf der sie in den letzten Wochen und Monaten so viele einsame Nächte verbracht hatte. Zara vermochte nicht einmal genau zu sagen, wann sie das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen hatte; was das anging, so kam dieser Abstecher ins Nirgendwo von Ancaria geradezu einer Rückkehr in die Zivilisation gleich, so absonderlich sich das auch anhören mochte. Und obwohl sich Zara vor den Träumen fürchtete, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach heimsuchen würden, sobald sie in Morpheus’ Arme hinübergedriftet war, beschloss sie, diesen ungewohnten „Luxus“ zu genießen, solange er währte.
Schließlich, wer vermochte schon zu sagen, was morgen war?
XIV.
Zara hatte in ihrem Leben schon so mancher Treibjagd beigewohnt, doch der Anblick, der sich ihr bot, als Falk und sie bei den ersten grauen Strahlen des neuen Tages aus der Schenke traten, entlockte selbst einer erfahrenen Kriegerin wie ihr einen erstaunten Ausruf.
Auf dem Platz vor dem Güldenen Tropfen wimmelte es nur so vor Menschen, fast wie bei einem Volksfest. Da waren Bauern, Knechte und Torfstecher in schlichter Kleidung, mit Bögen und Mistgabeln; Jäger zu Pferd, Musketen in den schlauchartigen Seitentaschen ihrer Pferde; Spurensucher mit allen möglichen Arten von Hunden, großen wie kleinen, die aufgeregt an ihren Leinen zerrten, einige mit Maulkorb, andere ohne, doch alle begierig darauf, loszuhetzen und ihre Beute zur Strecke zu bringen; Knaben und Jugendliche als Treiber mit Schellen und Blechbechern, in denen Steine klapperten, um die Beute aufzuscheuchen; und dann waren da noch die Wohlhabenden und Adeligen, die zwar nur einen geringen Anteil an der bunt zusammengewürfelten Jagdgesellschaft bildeten, die Szene aber nichtsdestotrotz dominierten, ähnlich wie ein Rotweinfleck auf einer weißen Tischdecke – Männer und Frauen in edlen Jagdgewändern aus teuren Stoffen, mit verästelten goldenen Stickereien am Revers und an den Taschen, Hüte und Mützen mit schimmernden Pfauenfedern auf dem Kopf, die Hände in feinen ledernen Handschuhen, die Pferde geführt von Lakaien und Leibeigenen, die all die Arbeit verrichteten, für die sich diese Damen und Herren zu fein waren. Überhaupt wirkten die Herrschaften weniger, als wären sie hier, um eine Bestie zur Strecke zu bringen, die ein Dutzend Menschenleben auf dem Gewissen hatte, sondern eher, als sei dies einer ihrer dekadenten Jagdausflüge, bei denen man wahllos in der Gegend rumballerte und Tiere abschoss, weil man sonst nichts zu tun hatte, als sei dies hier ein bloßer Zeitvertreib, bevor man die nächste Tasse Tee trank und beim Kaminfeuer gepflegte Konversation trieb.
Einen krassen Gegensatz zu diesen Herrschaften bildeten die armen Schlucker, die zu Dutzenden aus den weiter entfernten Nachbardörfern Torffingen und Sumpfhain nach Moorbruch gekommen waren, in der Hoffnung, diesen Tag womöglich als reiche Männer zu beschließen, wenn es ihnen gelang, die Bestie zur Strecke zu bringen und die Belohnung einzuheimsen, die auf den Kopf des blutrünstigen Untiers ausgelobt war.
Als Zara den Blick über die Hundertschaften von Menschen schweifen ließ, sah sie drüben bei einer der Kutschen voller Waffen, Fallen und Ködern Bürgermeister von der Wehr, der sich mit entschlossener Miene mit Gregor D’Arc unterhielt; das Stimmengewirr auf dem Platz war zu laut, als dass Zara imstande gewesen wäre, zu verstehen, worum es ging. Während von der Wehr unbeirrt weitersprach, glitt D’Arcs Blick suchend über die Menge und kam schließlich über den halben Platz hinweg auf Zara zu liegen, die das freundliche Begrüßungsnicken des Adeligen knapp erwiderte, bevor sie sich Falk neben ihr zuwandte – vielleicht eine Spur abrupter, als nötig gewesen wäre.
„Das reinste Volksfest“, brummte sie. „Kinder, Bauern und arrogantes Pack, das sich einen Spaß aus alldem macht; zu wenig Männer, die wissen, was sie tun.“ Sie betrachtete einen Jungen von vielleicht zehn Jahren, eingehüllt in einem zerlumpten Mantel, eine klobige Fellmütze auf dem Kopf, der sich ängstlich umsah, in den Händen eine Dose mit Kieseln, die bei jeder Bewegung gegen das Blech klapperten. „Kein Wunder, dass die Bestie bislang jedes Mal entkommen ist, ohne dass man ihrer habhaft wurde.“