„Jetzt sind wir ja da“, entgegnete Falk. Er ließ den Blick über den überfüllten Platz schweifen. „Wenigstens sind es viele.“
„Gerade das macht mir Sorgen“, murmelte Zara. „Zu viele Menschen; zu viele unterschiedliche Spuren; zu viele Leute, die sich gegenseitig in die Quere kommen; und zu viele unbedarfte Opfer für die Bestie ...“ Sie sah hinüber zu einer Gruppe junger Frauen in edlen Gewändern, die in Damensätteln mit auf einer Seite herabhängenden Beinen auf ihren Pferden saßen und sich angeregt über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Provinz unterhielten; keine von ihnen sah aus, als wäre sie älter als zwanzig. Und was Zara noch mehr beunruhigte: Offenbar hatte keine von ihnen Angst, obwohl sie allen Grund dazu hatten. Besonders eine der jungen Frauen fiel Zara ins Auge, eine große Dunkelhaarige mit aristokratischer Nase, schmalem Gesicht, dunklen Augen und wallendem braunem Haar, die mit ihrer vornehmen Überheblichkeit sogar noch ihre Freundinnen überstrahlte. Die klebten an ihren Lippen, um nur ja kein Wort zu verpassen, das das Fräulein äußerte.
Falk folgte Zaras Blick und runzelte besorgt die Stirn. „Du meinst, das Biest wird heute wieder zuschlagen?“
Zara trug wieder ihre beiden Schwerter, doch diesmal nicht links und rechts an der Hüfte, sondern überkreuz auf ihrem Rücken, was ihr mehr Bewegungsfreiheit gab. Zu beiden Seiten ihres Kopfes erhoben sich die Griffe der Waffen, sodass sie nur über die Schultern zu greifen brauchte, um die Schwerter aus den Lederscheiden auf ihrem Rücken zu ziehen. Die Waffengurte bildeten ein X auf ihrer Brust.
Zara wiegte auf Falks Frage hin den Kopf. „Nach allem, was wir wissen, werden die Abstände, in denen die Bestie zuschlägt, zunehmend kürzer, und wenn das Monstrum so klug und gerissen ist, wie es den Anschein hat, dann wird es nicht einfach zusehen, wie wir direkt vor seiner Nase ein Festbankett errichten; es wird sich seinen Happen holen.“
„Aber wen ...“ Falk verstummte, als Jahn neben ihnen auftauchte, links im Arm Wanja, rechts ein Mädchen, das etwa im gleichen Alter war, vielleicht ein, zwei Winter jünger. Ihr Haar war vom gleichen Weizenblond wie das von Wanja, doch ihre Gesichtszüge waren ein wenig herber als die des älteren Mädchens, auch wenn ihnen ein schlichter Liebreiz innewohnte, eine Schönheit, die sich dem Betrachter für gewöhnlich erst auf den zweiten Blick offenbarte. Doch Falk schien in dem jungen Mädchen in dem schlichten grauen Wollkleid und den klobigen Stiefeln vom ersten Moment an etwas zu sehen, das so tief verborgen lag, dass es sonst niemand bemerkte. Und das, was er da sah, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, das sich von den Augen aus über seine gesamte Miene ausbreitete. Er konnte kaum den Blick von ihr abwenden, und dem Mädchen schien es nicht viel anders zu ergehen; auch wenn eine zarte Röte über ihre Wangen kroch, wich sie Falks intensivem Blick nicht aus. Ein scheues Lächeln glitt über ihre vollen roten Lippen. Erst als Jahn sich dezent räusperte, schreckten die beiden auf, als würden sie aus einem tiefen Traum erwachen. Plötzlich sah das Mädchen beschämt zur Seite, als hätte man sie bei etwas schrecklich Unschicklichem ertappt, doch Jahn grinste und machte sie miteinander bekannt.
„Das“, sagte er und schob das junge Mädchen einen Schritt vor, das scheu die Hände im Schoß rang, „ist Ela – meine Schwester.“
Falk blinzelte ungläubig. „Deine Schwester?“ Jahn nickte und stellte dem Mädchen, deren kleine Schwester Myra von der Bestie ermordet worden war, Falk und Zara vor. Obwohl Jahn Zaras Heldentaten auf der Reise hierher in so anschaulicher Weise zum Besten gab, dass es Zara zunehmend unangenehm wurde, hatte Ela nur Augen für Falk, der ihren Blick voller Wärme erwiderte. Es war, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen, hätten sich jedoch irgendwann aus den Augen verloren und jetzt zum ersten Mal seit langer Zeit wiedergetroffen. Irgendwann war Jahn mit seiner Lobhudelei auf Zara am Ende, doch die zwei Turteltauben bekamen davon nichts mit und sahen sich nur weiterhin in die Augen, bis schließlich Bürgermeister von der Wehr auf einen der Pritschenwagen stieg und seinen Stock hob. „Ruhe!“, rief er. „Darf ich um Ruhe bitten! Bitte, Ruhe!“ Nach und nach verebbten die Gespräche, und alle Augenpaare richteten sich auf den Bürgermeister, der oben auf der Pritsche der Kutsche stand und sich in seinem lindgrünen Jagdkostüm alle Mühe gab, herrschaftlich zu wirken. Vor dem Wagen standen Gregor D’Arc und Pater Salieri, der finster dreinschaute. Er strahlte eine düstere Autorität aus, die nur noch von der des Landgrafen übertroffen wurde.
„Zunächst mal“, begann von der Wehr, „danke ich euch dafür, dass ihr hier und heute so zahlreich erschienen seid. Gemeinsam wollen wir die grausame Bestie zur Strecke bringen, die uns so viele unserer Töchter genommen hat! Ich weiß, dass sich mancher von euch fragen mag, warum wir diesmal Erfolg haben sollten, wo wir die letzten beiden Male keinen hatten. Nun, uns stehen dieses Mal mehr Männer, mehr Hunde und mehr Treiber zur Verfügung, und auch wenn unser Appell an den König, uns in diesen schweren Stunden beizustehen, noch immer ungehört geblieben ist und wir ganz auf uns allein gestellt sind, so können wir uns doch gewiss sein, dass zumindest die Alten Götter auf uns herunterschauen und uns beistehen.“
„Die Alten Götter können euch nicht retten“, brummte Salieri mit grimmiger Stimme. Er wollte noch mehr sagen, doch Gregor D’Arc warf ihm einen scharfen Blick zu, der den Geistlichen verstummen ließ. Salieri starrte düster auf seine Füße, während Bürgermeister von der Wehr oben auf dem Pritschenwagen mit seiner Ansprache fortfuhr.
„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, denn dann hätte die Bestie gewonnen. Denn ohne unsere Hoffnung und unseren Willen, was haben wir da noch, wofür es sich zu leben lohnt?“ Er machte eine dramatische Pause, dann sprach er weiter: „Nein, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich am Ende alles zum Guten wendet, allein schon wegen unser Familien, wegen unserer Frauen und Töchter. Deshalb sind wir heute hier, ihr und ich: um für unsere Zukunft zu kämpfen und für die unserer Kinder! Deshalb sage ich euch, meine Freunde: Gebt die Hoffnung nicht auf! Glaubt daran, dass wir die Bestie hier und heute ein für alle Mal zur Strecke bringen können! Gebt Euer Bestes, dass ihr Schädel heute Abend auf einer Stange auf diesem Platz steckt, als Zeichen und Mahnmal gleichermaßen, dass wir das Grauen überwunden haben und wir wieder lächelnd in die Zukunft blicken können! – Wir werden die Bestie kriegen! Ja, wir werden sie kriegen! Für unsere Familien!“
Verschiedentlich erklang unter den Versammelten zustimmendes Gemurmel, doch die meisten standen einfach nur mit skeptischen Mienen da und behielten ihre Meinung für sich; vielleicht hofften sie, dass von der Wehrs Worte zutreffen würden, dass der wochenlange Albtraum, der sie heimsuchte, heute mit dem Schein der Dämmerung vergessen war, wie ein böser Traum, aus dem man einfach so erwachte, doch daran glauben konnten nur die wenigsten von ihnen.
Auch Zara schnaubte verächtlich. „Was für ein dämliches Gerede!“, brummte sie mit Blick auf den Bürgermeister, der schwerfällig vom Wagen stieg. Dann erinnerte sie sich daran, dass Wanja neben ihr stand, und bereute ihre harschen Worte, doch die Tochter des Bürgermeisters lächelte verständnisvoll und auch ein bisschen traurig, so, als hätte Zara bloß das ausgesprochen, was ohnehin jeder hier dachte.
„Er ist ein guter Mensch“, sagte Wanja leise. „Und er tut, was er kann ... Aber manchmal ist das eben nicht genug.“