Zara schwieg und wandte betreten den Blick ab, und auch keiner der anderen wusste so recht, was er sagen sollte, sodass Zara froh war, als Ela plötzlich eine Frau in einem weiten Mantel entdeckte, die allein, mit einem großen Wolfshund an der Leine, am gegenüberliegenden Rande des Platzes stand. Im ersten Moment glaubte Zara, die Frau sei mindestens doppelt so alt wie die beiden jungen Mädchen neben ihr, doch dann erkannte sie, dass das nicht stimmte; die Frau war noch jung, kaum älter als Wanja und Ela, doch Kummer und Tränen hatten sie vor ihrer Zeit altern lassen.
Ela fasste Wanja sanft am Arm. „Da drüben ist Elura. Seit die Bestie letzte Woche ihre beiden Schwestern geholt hat, habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie sieht grauenvoll aus. Komm, lass uns rübergehen, Wanja, ob wir irgendetwas für sie tun können, ja?“
Wanja nickte mit fest zusammengepressten Lippen.
Die Treiber und Jäger rings um Zara und die anderen begannen sich allmählich zu verstreuen; die Jagdgesellschaft wappnete sich zum Aufbruch. Die meisten Männer machten nicht gerade einen entschlossenen Eindruck. Sie wirkten eher so, als wären sie nur hier, um eine lästige Pflicht hinter sich zu bringen, ehe sie in den Güldenen Tropfen einkehren und auf Kosten des Bürgermeisters ihren Frust hinunterspülen konnten. Nur die hohen Herrschaften schienen sich bei Glühwein und Gebäck bestens zu amüsieren, als wäre dies eine ihrer Freizeitveranstaltungen wie Fuchsjagd oder Polo oder womit auch immer sich diese feinen Damen und Herren sonst die Zeit vertreiben mochten. Ernst nahmen sie die Sache jedenfalls nicht; oder zumindest nicht so ernst, wie es angebracht gewesen wäre. Irgendwo lachte sogar jemand. Einen Moment später pfiff jemand anerkennend, dann noch einer. Als Zara sich umwandte, um zu sehen, was los war, bildete sich zwischen den Treibern und Jägern mit ihren Hunden eine Gasse, durch die eine junge Frau ging – nein, nicht ging: schwebte. Sie schien direkt den feuchten Träumen eines grünen Jungen entsprungen zu sein. Wenn die Alten Götter der Versuchung je eine Gestalt gegeben hatten, dann kam sie in diesem Moment mit majestätischen Schritten auf sie zu.
„Meine Herren ...“, raunte Falk fasziniert, mit Augen, so groß wie Taubeneier. Er hatte Mühe, seinen Oberkiefer oben zu halten; fehlte nur noch, dass ihm Speichel aus den Mundwinkel lief. „Wer ist das?“
„Das“, sagte Jahn düster, „ist Drusilla von Drake.“
Alles an der jungen Frau schrie förmlich danach, dem „starken“ Geschlecht zu gefallen: die vollen, knallrot geschminkten Lippen, die mit dunklem Lidstrich umrahmten Augen, die dadurch einen fast schwermütigen Ausdruck bekamen, das lange braune Haar, das in weichen Wellen um ihre Schultern wogte, und nicht zuletzt das elegante, eng am Körper liegende grüne Jagdkostüm mit der miederbedingten Wespentaille, die selbst Zara Anerkennung abnötigte; ein Wunder, dass das junge Ding überhaupt Luft bekam, so eng, wie das Mieder geschnürt war. Als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, war sie sich der gierigen Blicke all der Männer ringsum sehr wohl bewusst. Nur dafür hatte sie sich schließlich so aufgetakelt; sie wollte diese Blicke. Sie wollte im Mittelpunkt stehen, egal, um welchen Preis, und da ihr die Alten Götter außer einem perfekten Körper und einem nicht minder vollkommenen Gesicht nichts weiter mitgegeben hatten, setzte sie das, was sie hatte, so gut ein, wie sie eben konnte. Immerhin war alles, was sie im Leben erreichen musste, einen wohlhabenden Mann zu finden, der bereit war, sie zu heiraten und ihr den Rest ihres Lebens zu finanzieren. Moorbruch war für solche Ambitionen sicherlich nicht der rechte Ort, aber Zara war überzeugt davon, dass Drusilla in einer Stadt wie Hohenmut oder Mascarell keine Schwierigkeiten haben würde, einen entsprechenden Gatten zu finden – oder zumindest einen Bordellbesitzer, der sie nur zu gern in seine Dienste nehmen würde ...
Ohne auf die anerkennenden Pfiffe und die gierigen Blicke zu achten, mit denen die Männer sie bis auf die Haut auszogen, schlenderte Drusilla über den Platz, direkt auf Zara und ihre beiden männlichen Begleiter zu. Doch während Falk bei ihrem Anblick seine liebe Mühe hatte, seinen Speichelfluss im Zaum zu halten, schien Jahn von der Schönen weit weniger angetan zu sein. Das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit, denn während er die junge Frau düster anstarrte, als sie – die Arme bis zu den Ellbogen in langen weißen Lederhandschuhen und in der einen Hand eine schwarze Reitgerte – mit wiegenden Hüften an ihnen vorbeischritt, strafte Drusilla das Trio mit arroganter Gleichgültigkeit. Falk schien das nicht zu stören; er sog den Duft ihres schweren, viel zu süßen Parfüms tief ein.
Nach ein paar Schritten wandte Drusilla leicht den Kopf und blinzelte Falk mit einem kleinen, süffisanten Lächeln zu, das kaum mehr als die Ränder ihrer vollen blutroten Lippen kräuselte, doch es genügte, um Falk voller Bewunderung seufzen zu lassen. Er sah ihr mit verträumtem Blick nach, wie sie sich entfernte. „Du liebe Güte“, murmelte er. „Was für eine Frau!“
Jahn schnaubte verächtlich. „Drusilla ist ein Flittchen. Wenn ich für jeden, der bereits das Vergnügen mit ihr hatte, einen Goldtaler bekäme, müsste ich in diesem Leben keinen Handschlag mehr tun.“ Er sah der jungen Frau nach, wie sie divenhaft zu einer der Adelskutschen ging, und schüttelte den Kopf, als die Männer, an denen sie mit ihrer koketten Art vorbeiging, ihr gierig hinterherschauten, beinahe, als hätten sie in ihrem Leben noch nie eine Frau gesehen. „Wenn du schon eine anschmachten willst“, wandte er sich an Falk, nur halb im Scherz, „dann meine Schwester. Sie kann zwar nicht mit so viel ... Erfahrung aufwarten wie Drusilla, aber sie ist ein liebes Mädchen und keine falsche Schlange, die es bloß darauf anlegt, Unheil zu stiften. Meinen Segen hast du jedenfalls.“
Falk riss den Blick von Drusilla los und schaute hinüber zu Ela und Wanja, die sich um Elura kümmerten, und die triebhafte Begierde in seinem Blick machte einem Ausdruck der Wärme und Zuneigung Platz. Und als würde Ela spüren, dass Falk sie ansah, drehte die junge Frau auf einmal den Kopf und erwiderte seinen Blick mit einem scheuen Lächeln. Falk bekam rote Ohren und sah verlegen zu Boden.
Dann blies einer der Jäger in sein Horn, und der Ernst der Situation holte Falk wieder auf den kalten, harten Boden der Tatsachen zurück.
„Es geht los“, sagte Jahn. „Ich hole die Pferde.“
„Ich komme mit und helfe dir“, sagte Falk.
„Lasst Kjell im Stall“, befahl Zara.
Die beiden jungen Männer sahen sie fragend und verwirrt an.
„Ich gehe zu Fuß auf die Jagd“, erklärte sie. „Auf diese Weise bin ich leiser und laufe nicht Gefahr, dass die Bestie Kjell wittert. Das gilt auch für euch“, sagte sie ernst, „deshalb werde ich allein gehen.“
Falk runzelte die Stirn. „Ohne uns?“
Zara nickte. „Ohne euch.“
„Aber ich dachte, wir sind ein Team.“
„Wir sind kein Team“, entgegnete Zara kühl. „Wir sind keine Partner, wir sind keine Freunde und wir sind keine Kumpels. Du hast dich an mich gehängt wie eine verfluchte Klette, und jetzt werde ich dich nicht mehr los. Ich war einverstanden, dass wir zusammen reisen, aber die Spielregeln bestimme ich. Falls du damit ein Problem hast, kannst du gern weiterziehen – allein!“ Sie sah Falk durchdringend an. „Haben wir ein Problem?“
Falk biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Kein Problem“, sagte er so kleinlaut, dass Zara ihre harschen Worte beinahe Leid taten, doch sie konnte Falk bei dem, was sie vorhatte, beim besten Willen nicht gebrauchen; weder ihn noch sonst jemanden.
Anders als Falk sah Jahn die Sache mit dem erforderlichem Maß Pragmatismus. „Dann reiten wir mit den Mädchen“, erklärte er. „Wenn wir bei ihnen bleiben, wird ihnen hoffentlich nichts zustoßen. Die Bestie hat noch nie eine Gruppe angegriffen, immer nur einzelne Opfer.“ Er sah Zara mit ernster Miene an. „Ich weiß nicht, was Ihr vorhabt, aber wenn Ihr Hilfe braucht, lasst es uns bitte wissen. Wir sind vielleicht keine so überragenden Kämpfer wie Ihr, aber auch Bauern wie ich wissen sich zu verteidigen.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schulterte er grimmig die schwere Armbrust, die er die ganze Zeit über in einer Hand gehalten hatte. Dann wandte er sich ab, legte Falk in einer kameradschaftlichen Geste einen Arm um die Schultern und zog ihn in Richtung des Stalls davon, um die Pferde zu holen; widerwillig ging Falk mit ihm. Vermutlich ahnten die beiden Männer, dass es keinen Sinn hatte, mit Zara zu diskutieren.