In diesem Wirrwarr aus Schluchten, Tälern, Bäumen, Felsen und Sümpfen hätte sich eine ganze Armee verstecken können, ohne dass man sie gefunden hätte, selbst wenn zwei andere Armeen nach ihr suchten. In dieser Umgebung eine Kreatur von der ungefähren Größe eines Wolfs aufzuspüren, wurde dadurch zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Bestie in diesen Wäldern bestens auskannte; sie versuchten also, ihren Gegner auf eigenem Territorium zu schlagen, und daran waren schon ganz andere gescheitert. Mit anderen Worten: Das Ungeheuer war in jeder Hinsicht im Vorteil.
Nun, dachte Zara, während sie abseits der festen Pfade lautlos durch den dunklen Wald schlich, vielleicht nicht in jeder...
Seit sie Moorbruch vor zwei Stunden hinter sich gelassen hatte, hatte sie keine Menschenseele zu Gesicht bekommen, doch der Lärm der Jagdgesellschaft war allgegenwärtig, ein konstantes Rufen und Bellen und Stimmengemurmel in der Ferne, hin und wieder punktiert vom Knallen einer Muskete. Obwohl Zara sich alle Mühe gab, sich von der Jagdgesellschaft fernzuhalten, die sich schwerfällig und lautstark wie eine Horde Wildschweine durch den Forst schob, bekam sie doch mehr von dem mit, was geschah, als ihr lieb sein konnte. Vor einer Weile hatte sie von einem Hügel aus mehr zufällig einen Blick auf die Menschen erhascht. Die Jagdgesellschaft folgte dem klassischen Muster: Während die Treiber mit ihren Rasseln und Klappern zusammen mit den Hundeführern die Vorhut bildeten und in einer geschlossenen Linie durch das Unterholz walzten als eine geschlossene Wand aus Leibern, um alles aufzuscheuchen, was sich vor ihnen im Dickicht verstecken mochte, hielt sich das Fußvolk mit seinen Speeren und Heugabeln und Mistforken zwanzig Schritte hinter ihnen; einige versuchten, das Halbdunkel des Waldes mit Fackeln zu vertreiben. Wiederum zwanzig Schritte dahinter kamen die Jäger zu Pferde, und dahinter, quasi als Nachhut, der Tross der Adeligen, die plaudernd und scherzend auf ihren Gäulen saßen, begleitet von Dienern und Leibeigenen, die ihnen ihre Waffen trugen. Ganz zum Schluss kamen die Pritschenwagen mit der Verpflegung und der Kadaverkarren, auf dem die Jagdbeute transportiert werden sollte. Es war kein Wunder, dass es den Moorbruchern bislang nicht gelungen war, die Bestie zur Strecke zu bringen; sie gingen so ungeschickt und tölpelhaft vor, dass es selbst einem Olifanten ohne größere Mühe gelungen wäre, durch ihre Maschen zu schlüpfen.
Gleichwohl, die Treibjagd erfüllte ihren Zweck; die Tiere des Waldes waren in hellem Aufruhr. Aufgescheucht vom Geräusch der Klappern und dem Bellen der Bluthunde, die wie verrückt an ihren Leinen zerrten, nahmen die Tiere Reißaus. Überall im Dickicht raschelte es; die Blätter von Büschen und Sträuchern wogten und bebten. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus schien es Zara, als würde der ganze Forst leben. Eichhörnchen huschten erschrocken die Baumstämme hinauf, Gänse und Perlhühner stoben schnatternd und kreischend aus dem Gestrüpp in einer nebligen Senke auf, zwei junge Rehe flogen in wildem Zickzack tiefer in den Wald ... Doch egal, wie viele Tiere die Häscher aufscheuchten, die Bestie war nicht darunter.
Nachdem Zara das Treiben der Jäger eine Minute lang verfolgt hatte, wandte sie sich kopfschüttelnd ab und rutschte auf der anderen Seite den Hügel hinunter, um ihre Suche nach Spuren der Bestie weiter südlich fortzusetzen, tiefer im Wald. Doch obwohl Zara eine versierte Fährtensucherin war und Augen und Ohren offen hielt, fand sie nicht eine Spur der Bestie; keine Fußabdrücke, keinen Kot, keine Haare – nichts, was man bei einem so großen Wesen eigentlich zu finden erwarten konnte.
Je weiter der Vormittag fortschritt, desto größer wurde Zaras Frust.
Sie arbeitete sich zu Fuß bis zum Rand eines großen Sumpfgebiets vor, wo eine windschiefe Holzhütte mit löchrigem Schindeldach und halb vermoderte Holzgerüste davon kündeten, dass in dieser Gegend Torf gestochen wurde, und als sie bei der Hütte einen Moment lang eine kurze Verschnaufpause einlegte, glaubte sie, aus dem Augenwinkel eine vage Bewegung in den Büschen zu ihrer Rechten wahrzunehmen, so, als würde sich etwas Großes, Massiges durch das Unterholz schieben. Doch als sie nachsah, entdeckte sie im Unterholz lediglich einen großen Eber mit borstigem Fell, der mit seinen verdreckten, leicht gebogenen Hauern im Laub nach Eicheln suchte.
Sie überließ den Eber seinen Eicheln und ging einmal um den gesamten Sumpf herum, doch vergebens: Die Bestie schien in diesem Teil des Waldes keine Spuren hinterlassen zu haben, und falls doch, dann waren sie der harschen Witterung zum Opfer gefallen. Zara zwang sich, nicht allzu niedergeschlagen zu sein, und ging auf einem anderen Weg in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Dabei fiel ihr irgendwann auf, wie ungewöhnlich ruhig es war. Nachdem sie den ganzen Vormittag über im Hintergrund konstant das Klappern und Rasseln der Treiber und das Bellen der Hunde vernommen hatte, war es jetzt still. Alles, was an ihr Ohr drang, war das leise Wispern des Windes in den Bäumen und das Murmeln eines kleinen Bachlaufs, der sich in der Nähe durch das Unterholz wand. Selbst die Tiere des Waldes waren verstummt.
Im ersten Moment stieß sie ein erleichtertes Seufzen aus – endlich Ruhe! –, doch nach ein paar Minuten fing die ungewohnte Stille an, an ihren Nerven zu nagen. Neugierig, was die plötzliche Stille zu bedeuten hatte, änderte sie ihren Kurs und arbeitete sich in die Richtung vor, in der sie die Jagdgesellschaft zuletzt gehört hatte. Inzwischen war es Mittag, doch obwohl die Sonne irgendwo jenseits der dichten Wolkendecke längst hoch am Firmament stehen musste, war dieser Teil der Welt noch immer in vages Zwielicht getaucht, als weigere sich der Tag, anzubrechen. Der Wind hatte seit dem Morgen ein wenig aufgefrischt und ließ die Wipfel der Tannen schaukeln.
Zara folgte in der Nähe eines zugefrorenen kleinen Weihers einem Trampelpfad durch das Unterholz, und plötzlich stand sie am Rande einer Waldlichtung, auf der die Jagdgesellschaft ihr Mittagslager abhielt, in Wurfweite eines kleinen Bachs, aus dem die Diener eiskaltes Wasser schöpften, um damit die Pferde zu tränken und Teller zu waschen. Mitten auf der Lichtung stand der Proviantwagen; davor hatte man an einem riesigen Dreifuß einen gewaltigen Kupferkessel über dem Feuer aufgehängt, von dem der Duft von Fett und Suppe über die Lichtung trieb.
Während sich die hohen Herrschaften in einem eigens für sie errichteten Zelt tummelten, drängten sich die Jäger und Häscher um das Feuer, löffelten Suppe aus Blechtassen und Tellern und wirkten mehr wie auf einem Picknickausflug denn auf einer Treibjagd. Vermutlich glaubten sie, sich diesen Luxus nach dem anstrengenden Morgen, der hinter ihnen lag, verdient zu haben, denn wenn man ihnen eines nicht vorwerfen konnte, dann, dass sie untätig gewesen waren. Bis jetzt war die Jagd sogar ausgesprochen ertragreich gewesen.
Die „Ausbeute“ des Vormittags lag fein säuberlich aufgereiht mitten auf der Lichtung, zur Schau gestellt wie Auslagen beim Schlachter: sieben Füchse, fünf Wildschweine, ein halbes Dutzend Wildschweinfrischlinge, mehrere Hasen und Kaninchen, zwei Dutzend Perlhühner, fünf Fasane und sogar ein Hirsch, ein stattlicher Siebenender, den jemand mit einem sauberen Blattschuss zur Strecke gebracht hatte. Messer blitzten; mehrere Männer waren dabei, den Tieren mit geübten Handgriffen das Fell abzuziehen. Keines dieser Tiere sah auch nur entfernt wie die Bestie aus, und doch taten die feiernden Jäger so, als hätten sie das Ungeheuer zur Strecke gebracht.
Auf einmal trat Gregor D’Arc neben sie, dem ihre Ankunft nicht entgangen war, und hielt ihr eine Blechtasse mit Punsch hin; der Duft von Rotwein und Gewürzen stieg Zara in die Nase, doch sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Durst, von Appetit ganz zu schweigen. Gregor zuckte mit den Schultern, als hätte er nichts anderes erwartet, und trank selbst einen Schluck, ehe er sagte: „Und? Glück gehabt bei der Jagd?“