Sie konzentrierte sich erneut auf den animalischen Geruch, der sie hergeführt hatte. Dann folgte sie dem Trampelpfad zur Südseite des Felsens, wo der Geruch schließlich so überwältigend wurde, dass es Zara schier den Atem verschlug. Sie verzog angewidert das Gesicht und ging unbeirrt weiter am Fuß des Felsens entlang, bis zu einer Stelle, wo ihr ein Vorhang aus Efeuranken und Moos in einer Felsnische den Blick auf die Quelle des animalischen Gestanks verwehrte. Bereit, sofort ihre Schwerter zu ziehen, falls Gefahr im Verzug war, blieb sie vor der Nische stehen, streckte nach kurzem Zögern die Hand nach dem natürlichen Vorhang aus und strich die Efeuranken beiseite. Dahinter kam eine schmale Felsnische zum Vorschein, die vielleicht drei oder vier Schritte in den Felsen führte. Auf dem Boden der Nische, die wie ein umgedrehtes V wirkte, häuften sich Laub und Kiefernnadeln, die den Kadaver eines Tieres, das Zara bei genauerem Hinsehen als Wildschwein erkannte, zum Teil bedeckten. Die Überreste des Tieres lagen auf der Seite, und Zara sah die tiefen Wunden, die gewaltige Pranken gerissen hatten. Leere Augenhöhlen starrten Zara entgegen; fünf tiefe Kratzer zogen sich parallel über den Schädel, fast so, als habe jemand mit einer Axt oder einem stumpfen Messer darauf eingeschlagen. Trotz des Gestanks nach Fäulnis und Verwesung beugte sich Zara vor und nahm den Kadaver eingehend in Augenschein. Überall zeigten sich lange, tiefe Wunden.
Doch da war noch etwas anderes. Ein animalischer, irgendwie dunkler Geruch, der vom Gestank des verwesten Kadavers fast verdeckt wurde, wie feuchtes Hundefell. Zara konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal gerochen zu haben, doch sie war sich sicher, auf der richtigen Spur zu sein.
Nach einem letzten Blick auf das tote Schwein trat sie aus der Nische zurück und schaute sich neugierig in ihrer Umgebung um. Ihre Nasenflügel bebten leicht, als sie versuchte, der Witterung zu folgen. Was auch immer das Wildschwein getötet hatte, es hatte sich in südöstlicher Richtung vom Teufelsfelsen entfernt und war tiefer in den Wald vorgestoßen. Die Geruchsspur war zwar schon älter – das Wildschwein war mindestens schon seit zwei oder drei Tagen tot –, doch stark genug, dass Zara ihr folgen konnte. Sie tauchte wieder in das Unterholz ein, nicht weit von der Stelle entfernt, wo sie es vorhin verlassen hatte, nur dass sie jetzt in die entgegengesetzte Richtung ging, weg vom Teufelsfelsen und dem Tumult der Jagdgesellschaft, die mit jeder Minute näher kam. Dann umfing sie erneut dichtes Unterholz.
Zara folgte der Fährte durch ein Gewirr aus Büschen, Sträuchern und Farnen. Der dunkle, irgendwie gefährliche Geruch, den sie bei dem Kadaver des Wildschweins aufgenommen hatte, wurde intensiver. Doch Zara vermochte noch immer nicht zu sagen, was es war, dass ihr daran so seltsam vorkam; es war der Geruch eines Tiers, keine Frage, doch da war noch etwas anderes, etwas schwer Fassbares, das nur knapp außerhalb ihrer Wahrnehmung zu liegen schien, zum Greifen nahe und dennoch unerreichbar. Zara wusste nur eins: Was auch immer das für ein Wesen war, es war mit nichts vergleichbar, das sie bislang getroffen hatte. Zara spürte, wie sich in ihr eine gewisse Nervosität regte.
Bald verklangen das Bellen und die Rufe der Treiber in der Stille des Waldes, und Zara war allein mit sich und der Spur, von der sie hoffte, dass sie sie zu der Bestie führte. Doch selbst, wenn das zutraf, war es damit noch lange nicht getan; es gab einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen „die Bestie aufspüren“ und „die Bestie töten“. Angeblich war diese Kreatur, um was auch immer es sich dabei handeln mochte, ungeheuer stark und nicht zu verletzen. Zara hatte sich im Laufe der Zeit zwar so manches Mal gewünscht, den Tod und damit Frieden zu finden, trotzdem schreckte sie in letzter Konsequenz doch davor zurück. Auch wenn der Tod selbst seinen Schrecken für Zara verloren hatte, da war etwas, das sie davon abhielt, ihr Leben allzu leichtfertig aufs Spiel zu setzen: die Hoffnung auf Erlösung – und die würde sie im Tod mit Sicherheit nicht finden ...
Nachdenklich folgte Zara dem zunehmend stärker werdenden Geruch durch den Wald. Ein vages, diffuses Zwielicht umfing sie, als würde jeden Moment die Nacht hereinbrechen, fast so, als würde das Dach des Waldes alles Licht absorbieren. Doch Zara hatte keine Mühe, sich zurechtzufinden, und nach einer Weile begann sich das Unterholz wieder zu lichten.
Auf einmal schälten sich die bedrohlichen, schartigen Umrisse einer alten Ruine aus dem Dickicht.
Die kläglichen Überreste deuteten darauf hin, dass das Gebäude einst ein prächtiges Herrenhaus gewesen war, mit Türmchen und Erkern und Balkonen vor den Fenstern, doch von der einstigen Pracht des Anwesens war längst nichts mehr zu sehen. Zurückgeblieben waren wuchtige, rußgeschwärzte Steinquader, verkohlte Balken und Bretter, teilweise eingestürzte, moosbewachsene Mauern und leere Fensterrahmen mit geschwärzten Glassplittern. Vom zweiten Stock und dem Dach waren bloß noch Fragmente übrig, und rußige Backsteine und Trümmer des Schornsteins und des hölzernen Dachfirsts lagen überall im vom Unkraut überwucherten Vorgarten, den der Schnee unregelmäßig bedeckte. Wind pfiffen durch das nackte Skelett des Dachfirsts.
Ein mannshoher Eisenzaun mit konischen Spitzen umgab Hausruine und Garten, in dem eine rostige Kinderschaukel leise im Wind quietschte. Das Gartentor gab es nicht mehr.
Noch jetzt, etliche Jahre nach dem Brand, lag ein Hauch von Feuer und Rauch über der düsteren Ruine; Zara hatte beinahe das Gefühl, noch das Prasseln des Feuers zu hören, das sich an dem Haus und allem, was darin war, gütlich tat, heiß und gierig. Sie fragte sich, was hier geschehen sein mochte. Warum war das Haus niedergebrannt? Und wer hatte darin gelebt, hier draußen, im Wald, fernab der nächsten Ortschaft?
In Gedanken versunken, ging sie weiter auf die Ruine zu, als sie plötzlich in den Augenwinkeln eine Bewegung gewahrte, zwischen den Trümmern nahe der Hauswand, dort, wo die Schatten am dichtesten waren. Dann vernahm sie ein leises Knurren, das tief aus der Kehle kam, und sofort blieb Zara stehen, während sich ihre Hände bereits um die Griffe ihrer Schwerter schlossen. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie mit ihren Blicken die Dunkelheit durchdrang und erkannte, was da in den Schatten der Ruine lauerte.
Keine zehn Schritte von ihr entfernt stand der größte Wolf, den Zara je gesehen hatte, mit schwarzgrauem, im Nacken drahtigem Fell. Das Tier maß mindestens zwei Meter von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, und der Kopf des Wolfs war fast doppelt so groß wie der eines Menschen, mit einem pfeilförmigen Muster grauer Haare zwischen den funkelnden Augen, das sich zwischen den spitz aufgestellten Ohren quer über den halben Schädel zog. Die dunklen Lefzen waren zurückgezogen, und der Wolf starrte Zara mit seinen goldfarbenen Augen durchdringend an.
Langsam und ohne Hast zog Zara ihre Schwerter. Dabei ließ sie den Wolf keine Sekunde aus den Augen. All ihre Sinne waren bis zum Äußersten gespannt.
Dann sah Zara plötzlich, dass der Wolf mit dem linken Hinterlauf in eine Bärenfalle geraten war, die jemand im dichten, halb verrotteten Laub zu Füßen der Mauer ausgelegt hatte, und sie entspannte sich wieder. Der Wolf saß in der Falle; die eisernen Dreieckszähne hatten sich knapp oberhalb der Pfote in seinen Lauf gegraben. Offenbar hatte er versucht, sich selbst aus der Falle zu befreien, doch das hatte nur dazu geführt, dass sich die Eisenzacken noch tiefer in sein Fleisch gegraben hatten. Blut ließ sein Fell feucht glänzen, und als Zara dem Tier in seine Augen sah, erkannte sie darin mehr Furcht als Angriffswut. Vermutlich hatten die Einwohner von Moorbruch die Falle hier ausgelegt, um so die Bestie zur Strecke zu bringen; stattdessen war ihnen ein Wolf in die Falle gegangen – ein riesiger Wolf, fürwahr, jedoch nichtsdestotrotz nur ein Wolf.
Zara schob ihre Schwerter ebenso langsam wieder in die Scheiden zurück, wie sie sie herausgezogen hatte, und ging mit langsamen Schritten auf den Wolf zu. Der knurrte wieder, tief und drohend, zum Zeichen, dass sie nicht näher kommen sollte, und versuchte, nach hinten zurückzuweichen, doch die Bärenfalle hinderte ihn daran, mit der Folge, dass er noch heftiger knurrte. Doch Zara ließ sich nicht beirren. Sie ging langsam, ohne Hast, weiter und hob besänftigend die Hände, um dem Wolf zu zeigen, dass es nichts gab, wovor er Angst haben musste. „Ruhig, mein Freund, nur ruhig“, sagte sie, „ich werde dir nichts tun. Alles, was ich will, ist, dich aus dieser Falle zu befreien, bevor du es selbst tust...“ Zara war im Laufe ihrer Reisen mehr als einmal auf Wölfe oder Füchse gestoßen, die in Bärenfallen geraten waren, und es war nie ein schöner Anblick gewesen, denn Wölfe waren wie Ratten: Wenn sie in eine Falle gerieten, taten sie alles, um sich zu befreien, selbst wenn sie dafür ihr eigenes Bein durchbeißen mussten. Doch auch wenn diese „Amputation“ den Tieren kurzzeitig die Freiheit zurückgab, kamen die meisten nicht weit, entweder weil sie durch die Wunde zu viel Blut verloren und starben, oder weil sie durch ihr neues Handicap zu einer leuchten Beute für andere Jäger und Räuber wurden. Dieses Schicksal wollte sie diesem majestätischen Tier ersparen. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis die Hunde der Jagdgesellschaft die Witterung des verletzten Wolfes aufnehmen würden, wenn es noch länger hier in der Falle saß, und dann war der Wolf vermutlich so oder so geliefert. „Ruhig, nur ruhig, ich tue dir nichts. Ich will dir nur helfen...“