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Als würde der Wolf verstehen, was sie sagte, ließ das Knurren nach und verklang schließlich ganz. Doch das große Tier ließ Zara nicht aus den Augen und folgte jeder ihre Bewegungen mit dem wachsamen Blick seiner intelligenten bernsteinfarbenen Augen, als Zara Schritt für Schritt näher kam, bis sie schließlich nur noch eine Armlänge von dem Wolf entfernt war. Jetzt befand sie sich in Reichweite seiner mächtigen Fänge; wenn er wollte, hätte er problemlos nach ihr schnappen können. Doch obwohl das Nackenhaar noch immer aufgestellt war und der wachsame Blick des Wolfs jede ihrer Bewegungen taxierte, glitten die Lefzen langsam wieder nach unten und bedeckten die mächtigen Zahnreihen, als wüsste das Tier instinktiv, dass ihm von Zara keinerlei Gefahr drohte.

Zara ging langsam neben dem Wolf in die Knie, beugte sich vor und griff nach den beiden Bügeln der Falle; in dieser Situation wäre es dem Tier ein Leichtes gewesen, sich in ihrem ungeschützten Nacken zu verbeißen. Doch der Wolf rührte sich nicht. Er stand einfach nur da, musterte Zara mit aufmerksamem Blick und tat auch nichts, als sie mit beiden Händen die eisernen Bügel der Bärenfalle auseinander drückte, was sich als schwieriger erwies als erwartet; die Spannung auf den Bügeln war enorm. Fast war es ein Wunder, dass die zuschnappenden Bügel dem Wolf den Lauf nicht gleich amputiert hatten. Zara keuchte vor Anstrengung, doch es gelang ihr, die Eisenbügel soweit auseinander zu bekommen, dass der Wolf seinen verletzten Hinterlauf aus der Falle ziehen konnte.

Die Eisenbügel der Falle hatten sich tief in sein Fleisch gegraben, und als der Wolf langsam einen Schritt zurücktrat, zog er das verletzte Bein schwerfällig nach, doch kein Laut der Klage oder des Schmerzes kam über seine Lefzen. Stattdessen sank sein aufgestelltes Nackenhaar langsam in sich zusammen, als die Anspannung des Tieres nachließ, und ein kleines Lächeln huschte über Zaras Gesicht.

„Siehst du“, sagte sie leise, während sie die beiden Bügel der Bärenfalle langsam wieder schloss, „ich sagte doch, ich würde dir helfen.“

Der Wolf legte leicht den Kopf schief, als würde er versuchen, den Sinn ihrer Worte zu ergründen. Zara richtete sich langsam auf, die Hände wieder vor sich gestreckt, zum Zeichen, dass dem Tier keine Gefahr drohte, und musterte den riesigen Wolf ebenso aufmerksam, wie das Tier sie taxierte. Sie mochten vielleicht keine Feinde sein, doch Freunde waren sie ebenfalls nicht.

Zara blieb vor dem Wolf stehen und sah mit einem leisen Lächeln auf das mächtige Tier hinab, das ihr beinahe bis zum Bauchnabel reichte. Das seltsame gezackte Muster aus weißgrauem Fell, das von der Schnauze über den Schädel verlief, erinnerte an einen vom Himmel fahrenden Blitz. Einen Moment lang blieb sie, wo sie war; dann machte sie zögernd einen Schritt auf den Wolf zu, und dann, als der Wolf keine Anstalten machte, zu fliehen, noch einen.

Sie wollte gerade vorsichtig die Hand nach dem Tier ausstrecken, um den Wolf zu streicheln, als irgendwo jenseits der Ruine plötzlich ein Zweig knackte!

Die Ohren des Wolfs stellten sich ruckartig auf.

Zaras Kopf ruckte herum, die Augen zu Schlitzen verengt.

Am Waldrand standen Jahn, Falk und die beiden Mädchen, in ihren Mienen nacktes Entsetzen, als sie sahen, wie sich Zara und der riesige Wolf Auge in Auge gegenüberstanden, nur eine Armlänge voneinander entfernt. Der wuchtige Schädel des Wolfs ruckte ebenfalls herum, und als das Tier die Neuankömmlinge sah, glitten die Lefzen wieder von seinen gewaltigen Hauern zurück, und ein tiefes, gefährliches Knurren scholl durch die Ruine.

Jahn handelte, ohne lange zu überlegen. Er legte mit seiner Armbrust, die er gespannt und einsatzbereit in den Händen gehalten hatte, auf den Wolf an und kniete sich vor die anderen. Sein Finger lag am Abzug und zitterte ein wenig, als er sein Ziel ins Visier nahm.

„Nicht!“, rief Zara.

Doch es war zu spät.

Der Bolzen schoss auf den Wolf zu.

Zara sog scharf die Luft ein. Schneller, als man mit bloßem Auge verfolgen konnte, riss sie eines ihrer Schwerter aus der Scheide, holte aus und schleuderte das Schwert wuchtig von sich – alles, was Falk und die anderen davon mitbekamen, war eine einzige verschwommene Bewegung, dann fiel der Armbrustbolzen keine fünf Schritte vor dem Wolf zu Boden, während sich das Schwert mit einem satten Krachen in den Stamm einer alten, verkrüppelten Trauerweide bohrte.

Jahn blinzelte ungläubig. „Bei allen Göttern“, murmelte er und starrte Zara benommen an. „Wie – wie habt Ihr das gemacht?“

Zara antwortete nicht.

Einen Moment lang rührte sich niemand, als wäre die Welt erstarrt. Dann lief ein Ruck durch den Wolf, das gewaltige Tier drehte sich um und lief humpelnd auf den Waldrand zu, so schnell es sein verletzter Lauf zuließ. Ehe es jedoch im Unterholz verschwand, wandte es den Kopf noch einmal Zara zu, und einen magischen Moment lang sahen sie sich in die Augen, der Wolf und die Kriegerin, verwandte Seelen.

Dann klackte es – die Sehne war in den Spanner der Armbrust einrastete –, und der Wolf machte einen Satz nach vorn und war im Dickicht verschwunden. Jahn fluchte, riss die Armbrust hoch und wollte ihm folgen, doch Zara lief ihm in den Weg und hielt ihn zurück: „Lass ihn!“

Jahn funkelte sie an. „Warum?“

„Weil das nicht die Bestie ist“, sagte Zara ruhig, „sondern nur ein Wolf.“

„Auch Wölfe stellen eine Gefahr für uns dar!“, hielt Jahn dagegen.

„Und wenn schon!“, brummte Zara, nicht bereit, sich auf Diskussionen einzulassen. Sie sah hinüber zu der Stelle, wo der Wolf im Dickicht verschwunden war, und ein kaum merkliches Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel, bevor sie sich wieder den anderen zuwandte. Um das Thema zu wechseln, nickte sie in Richtung der verbrannten Ruine. „Was ist das hier für ein Ort?“

Langsam beruhigte sich Jahn wieder. Er ließ die Armbrust sinken, während Zara zu der Weide ging, um mit einem Ruck ihr Schwert aus dem Stamm zu ziehen. „Das hier“, erklärte er mit respektvoll gesenkter Stimme, „war einst das Anwesen eines Gelehrten, aber ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern ...“

„Humbug“, sagte Wanja.

„Nein“, widersprach Jahn. „Hier hat wirklich ein Gelehrter gelebt ...“

„Ja, und sein Name war Humbug“, sagte sie. „Swend von Humbug. Er war ein berühmter Historiker, wenn wohl auch recht umstritten. Sein Hauptwerk ist die so genannte Chronik von Ancaria, ein mehrbändiges Werk über die Historie von Ancaria, vom Anbeginn der Zeit bis heute. Mein Vater kannte ihn recht gut; wir haben eine ganze Reihe seiner Bücher zu Hause. Er hat sich auf seine ganz eigene Weise mit der Geschichte von Ancaria befasst, und einige seiner Thesen über die Entstehung von Ancaria sind wohl recht gewagt, wenn ich meinen Vater richtig verstanden habe. Deshalb hatte von Humbug in Historikerkreisen wohl auch nicht allzu viele Freunde; die meisten haben ihn nicht für voll genommen. Anfangs machte ihm das wohl nicht viel aus, doch irgendwann wurden der Druck und die Missachtung, denen seine Frau und seine Kinder ausgesetzt waren, so groß, dass er beschloss, aus Hohenmut wegzugehen, wo sie bis dahin gelebt hatten. So kamen sie hierher, nach Moorbruch. Sie bauten sich dieses Haus und hofften, hier, fern von dem Spott der Menschen, ein neues Leben beginnen zu können.“