Zara steckte ihr Schwert in die Scheide zurück. „Was ist dann passiert?“
Jahn wiegte den Kopf. „Niemand weiß es mit Bestimmtheit. Als ich noch ein Junge war, sahen die Bewohner von Moorbruch eines Nachts Feuerschein über dem Wald, und als sie herkamen, stand das Anwesen vom Keller bis zum Dach lichterloh in Flammen. Da es unmöglich war, das Feuer zu löschen, ließen sie das Haus niederbrennen und suchten anschließend in den Trümmern nach den Leichen der Bewohner, doch sie fanden keine einzige; die Hitze war wohl so groß, dass selbst die Knochen verbrannt sind. Jedenfalls fand man weder von Swend von Humbug noch von seiner Familie je eine Spur, doch manchmal, in hellen Vollmondnächten, soll man sie angeblich noch immer hier sehen, wie die Kinder auf der Schaukel sitzen und Swend und seine Frau daneben beim Picknick, friedlich beisammen, als wüssten sie gar nicht, dass sie tot sind.“
„Nette Geschichte.“ Falk ließ seinen Blick unbehaglich über die verbrannte Ruine schweifen. „Die ideale Gute-Nacht-Geschichte für kleine Kinder ...“
Jahn zuckte gleichmütig mit den Schultern. „So erzählt man sich’s wenigstens.“ Er suchte Zaras Blick. „Was hat Euch überhaupt hier hergeführt?“, fragte er. „Die Bestie?“
Bevor sie antworten konnte, schnitt plötzlich das grelle Schrillen einer Signalpfeife durch den Wald. Das Pfeifen kam von irgendwo weiter südlich, aus Richtung von Moorbruch, irgendwo aus dem Dickicht des Forsts.
Jahn riss entsetzt die Augen auf. „Das Alarmsignal!“, zischte er.
„Die Bestie!“, raunte Ela ängstlich. „Die Bestie hat wieder zugeschlagen!“
„Verdammt!“ Falks Kopf ruckte zu Zara herum. „Und was machen wir ...“
Er brach ab, als er merkte, dass Zara überhaupt nicht mehr neben ihm stand. In dem Moment, als das Pfeifen an ihr Ohr drang, war Zara bereits losgejagt, in die Richtung, aus der das Signal durch die Abenddämmerung scholl.
Obwohl sie genau wie alle anderen die Hoffnung hegte, dass der Alarm womöglich gar nichts mit der Bestie zu tun hatte, sagte ihr der Instinkt, dass auf dem Friedhof von Moorbruch bald ein neues Grab in die hartgefrorene schwarze Erde getrieben werden musste ...
XVI.
Zara verließ den Schutz des Waldes und gelangte auf eine kleine Lichtung, von der das Schrillen der Signalpfeife hallte. Die junge Frau lag im Zentrum der Lichtung, auf dem Rücken, fast so, als würde sie schlafen, das Haar um den Kopf herum ausgebreitet, die Augen leer und blicklos empor zum wolkenverhangenen Himmel starrend. Das einstmals noble Jagdkostüm war nur noch ein blutiger Fetzen.
Zara ging in gebührendem Abstand um die Leiche herum, sorgsam darauf bedacht, nicht in das langsam gefrierende Blut zu treten. Das Einzige an Drusilla von Drake, das unversehrt zu sein schien, war ihr Gesicht, weiß und schön wie feines Porzellan, makellos und ohne einen einzigen Blutspritzer darauf.
Zara betrachtete die sterblichen Überreste zu ihren Füßen mit müdem Blick und seufzte resigniert, ohne auf den Jäger mit der Signalpfeife zu achten, der ein paar Schritte weiter stand und mit vor Schreck kreidebleichem Gesicht in seine Pfeife blies. Irgendwo im Unterholz am Rande der Lichtung wurden Hufgetrappel und wild durcheinander rufende Stimmen laut, doch Zara hatte nur Augen für die schöne Tote. Der Blutgeruch, der von der Toten ausging, war schwer und betäubend, wie Unmengen verschütteten Weins, doch als Zara die kupferschwangere Luft tief in ihre Lungen sog, war da noch etwas anderes, ein schwächerer, bitterer Geruch, der vom betäubenden Duft des Blutes fast verdeckt wurde, wie der fauligsüße Gestank von verfaulten Friedhofsblumen.
Zaras Stirn legte sich in grüblerische Falten, und sie ging neben Drusilla in die Knie. Aus unmittelbarer Nähe war der Blutgeruch noch betäubender, doch auch der Friedhofsblumengestank nahm zu, und als Zara sich mit leicht aufgeblähten Nüstern, wie ein Raubtier, das die Witterung seiner Beute aufnimmt, über die Tote beugte, nahm sie zudem noch den gleichen „sauberen“, unbefleckten Geruch wahr, den sie auch bei der toten Frau im Weiher gerochen hatte. Mit anderen Worten: Egal, wie verdorben und männermordend sich Drusilla auch gegeben haben mochte, hätte Jahn sich wirklich für jeden, der angeblich bereits das Vergnügen mit ihr hatte, einen Goldtaler geben lassen, so wäre er jetzt keinen Heller reicher. Wie es schien, hatte Drusilla von Drake zu jenen Frauen gehört, die sich einen Spaß daraus machten, die Männer durch ihr kokettes Auftreten um den Finger zu wickeln, jedoch hastig den Rückzug antraten, wenn es ernst wurde. Zara vermochte nicht zu sagen, was dieses Verhalten Drusilla eingebracht hatte – mal abgesehen vielleicht davon, in aller Öffentlichkeit als loses Flittchen dazustehen –, sie nahm jedoch an, dass Drusilla die begehrlichen Blicke der Männer gebraucht hatte, um ihr schwaches Selbstwertgefühl zu steigern.
Der Geruch der Jungfräulichkeit war aber nicht die einzige Überraschung, die Drusillas Leichnam für Zara bereithielt. Nicht minder aufschlussreich war das seltsame gelb-silbrige Pulver am zerfetzten Kragen der Toten, das im Zwielicht glitzerte wie Diamantstaub und so intensiv im Geruch war, dass Zara bereits wusste, womit sie es zu tun hatte, bevor sie das Pulver auf dem Kragen der Leiche behutsam mit der Spitze ihres Zeigefingers berührte und das feingemahlene Pulver nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. Der beißende Gestank von Schwefel stieg ihr in die Nase, vermischt mit den Gerüchen verschiedener Kräuter und Wurzeln, darunter Harnischwurz, Alraune, Tollkirsche, Gilgkraut und Mutterkorn, und die silbrigen Partikel, die in der Substanz glänzten, waren Sporen von Silberdisteln.
Der Gestank des Pulvers war so durchdringend, dass er Zara in der Nase stach, und auch wenn sie in den Dunklen Künsten alles andere als bewandert war, wusste sie dennoch genug darüber, um zu wissen, dass es sich bei dem Pulver um so genanntes Hexenpulver handelte, das seinerzeit von den Zauberkundigen des Landes verwendet worden war. Als König Aarnum I. alle Arten von Magie mit dem Zaubererlass gesetzlich und bei Todesstrafe verbot, war das Hexenpulver ebenso von der Bildfläche verschwunden wie alles andere, das mit Kräften spielte, die nicht von dieser Welt waren.
Zara konnte sich noch gut daran erinnern, wie die Soldaten des Königs durchs Land gezogen waren, um Zauberkundige einzufangen, in Ketten zu legen und in Käfigkarren zu deportieren wie Vieh auf dem Weg zum Schlachthof. Überall im Land hatten sich damals Zauberkundige auf der Flucht vor Aarnums Häschern befunden, und überall erhellte das grelle Flackern gewaltiger Feuer die Nacht, als die Soldaten des Königs ganze Bibliotheken von Zauberbüchern oder dem, was man dafür hielt, auf den Dorfplätzen zusammentrugen, mit Öl Übergossen und mit ihren Fackeln in Brand steckten. Als im Zuge des „Königlichen Edikts wider die Nekromantie und Zauberei“ Zauberwirkende mit Meuchelmördern auf eine Stufe gestellt wurden, begann im wahrsten Sinne des Wortes eine Hexenjagd, die sich gegen all jene richtete, die in irgendeiner Form mit den Dunklen Mächten in Verbindung standen – oder dem, was viele dafür hielten. Egal, ob Zauberer, Hexen, Nekromanten oder Heiler, sie alle standen auf Aarnums Liste, und wochenlang rollten Käfigkarren mit verzweifelten Männern und Frauen nach Sternental, wohin all jene verbannt wurden, die das Glück hatten, von gnädigen Inquisitoren abgeurteilt zu werden; viele gab es davon freilich nicht, und so blieb Sternental lange Zeit nahezu verlassen.