Später, unter der Ägide von Aarnums Erstgeborenem Morgast, wurde die Verfolgung Zauberkundiger mit unbarmherziger Härte fortgesetzt und sogar noch verschärft, denn einige Jahre lang fielen auch Schausteller und anderes fahrendes Volk ohne eigenes Zutun in den Rahmen des Edikts, und auch bei gewöhnlichen Bürgern genügte bereits der einfache Verdacht, um jemanden als Zauberkundigen einzukerkern oder ihn sofort zu verbrennen, denn obwohl zumindest Aarnum I. ein Mann von großer Rechtschaffenheit war, nutzten seine Untergebenen ihre plötzliche Macht über Leben und Tod schamlos aus, und nicht wenige Unschuldige fanden in den Flammen der Zauberinquisition ein grausiges Ende. Zuweilen genügte es schon, rote Haare zu haben oder die Missgunst eines Nachbarn auf sich zu ziehen, der einen daraufhin bei der Inquisition anprangerte, und wenn dies geschah, gab es in den seltensten Fällen eine Chance, diesen Verdacht zu widerlegen.
Jene finsteren Tage der Willkür waren seit vielen Jahrhunderten vorüber, doch seitdem herrschte unter der Bevölkerung Ancarias eine schleichende Paranoia, was Magie betraf. Niemand wollte in den Verdacht geraten, mit den Dunklen Mächten im Bunde zu sein, aus Furcht, die gesamte drakonische Härte des „Königlichen Edikts wider die Nekromantie und Zauberei“ am eigenen Leibe zu erfahren. Dies hatte zur Folge, dass Zauberbücher, Zauberkräuter oder andere Dinge wie Drachenblut, Hasenpfoten oder ungeweihte Gebeine – mit anderen Worten: alles, das auch nur im Entferntesten zum Zaubern verwendet werden konnte – in Ancaria so schwer aufzutreiben waren wie eine ehrliche Dirne in den Armenvierteln von Burg Hohenmut.
Doch wie kam dann das Hexenpulver an die Kleidung der Toten?
Als sie genauer hinsah, stellte Zara fest, dass die Leiche noch an anderen Stellen Spuren des Hexenpulvers aufwies, nicht nur an ihrem Kragen; auch an den Armen, im Bereich des Bauches und an den Schultern fand sich das silbrig-gelbliche Pulver, fein zwar, manchmal nur ein paar Körnchen, doch unzweifelhaft vorhanden. Zara ging durch den Kopf, dass Drusilla womöglich nicht nur eine arrogante junge Frau gewesen war, die sich einen Spaß daraus machte, den Männern reihenweise den Kopf zu verdrehen, sondern auch eine überaus neugierige junge Frau, die sich mit Dingen beschäftigt hatte, die im Allgemeinen als Tabu galten. Sie nahm nicht an, dass Drusilla in den Dunklen Künsten bewandert gewesen war – in diesem Fall hätte sie mit Sicherheit irgendeine Art Schutzzauber bei sich getragen, einen Talisman oder ein Medaillon –, doch vielleicht hatte sie mit den Dunklen Künsten gespielt, wie sie mit den Männern spielte, und schließlich: Gewann das Verbotene nicht gerade dadurch seinen besonderen Reiz, dass es verboten war?
Dann jedoch stellte Zara bei genauerer Betrachtung fest, dass das Pulver ausschließlich rings um die Wunden herum zu finden war, die die Bestie der jungen Frau zugefügt hatte, und nirgendwo sonst, was nur einen Schluss zuließ: Die Bestie hatte das Pulver an sich, an ihren Pfoten und Klauen. Vermutlich hatte auch die Leiche im Weiher ursprünglich Hexenpulver an sich gehabt, doch das Brackwasser hatte es fortgewaschen, sodass Zara bei der Untersuchung der Toten nichts davon wahrgenommen hatte. Zwar war das bloß eine Vermutung, und selbst, wenn zwei Opfer die gleichen Hinweise aufwiesen, konnte das noch immer Zufall sein, doch die Bestie wählte ihre Opfer mit Bedacht, und allein der rituelle Charakter der Tötungen, bei dem jedem Opfer das Herz aus dem Leib gerissen wurde – so war es auch hier –, ließ für Zufälle keinerlei Platz. Alles, was geschah, sollte genau so passieren, so und nicht anders, und wenn Zara nicht vollkommen daneben lag, dann galt dies auch für das Hexenpulver, das in irgendeiner Weise genauso zu diesem rituellen Morden gehörte wie der Umstand, dass allen Opfern das Herz aus dem Leib gerissen wurde, dass alle Opfer junge Frauen und dass keine dieser jungen Frauen bislang die Möglichkeit gehabt hatte, die Freuden der körperlichen Lust zu erfahren. Auch das Vorhandensein des Hexenpulvers konnte Zaras Meinung nach kein Zufall sein. Es gab gewisse Verbindungen zwischen den Opfern, und das bedeutete, dass jemand die jungen Frauen, die von der Bestie in Stücke gerissen wurden, explizit auswählte. Sie mussten ihr Leben lassen, weil sie sich alle in gewisser Weise ähnelten.
Weil sie alle Jungfrauen waren ...
Das und das Hexenpulver auf der Leiche, das die Bestie offenbar an sich hatte, wiesen daraufhin, dass es sich hier nicht, wie Pater Salieri seine Schäfchen glauben machen wollte, um eine Strafe seines Gottes handelte. Soviel Zara wusste, gab es in der Magie kein stärkeres Zaubermittel als Jungfrauen und alles, was damit zusammenhing. Und das bedeutete, dass sie es hier nicht mit einem nur rudimentär denkfähigen wilden Tier zu tun hatte, sondern mit einem Geschöpf, das mit den Dunklen Mächten paktierte.
Nachdenklich über dem zerfleischten Leichnam kauernd, ließ Zara den Blick mit einem leisen Seufzen über die Lichtung schweifen – und hielt abrupt inne, als sie am südlichen Rand der Lichtung eine Bewegung in den Schatten des Dickichts wahrnahm, ein Schatten innerhalb von Schatten. Zaras Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und sie sah zwischen den Bäumen eine Gestalt in einem weiten schwarzen Kapuzenmantel, die in ihre Richtung starrte. Das Gesicht unter der weiten Kapuze lag so tief im Schatten, dass Zara das Antlitz des Unbekannten nicht erkennen konnte, doch die Größe und Statur der Gestalt legten nahe, dass es sich um einen Mann handelte. Einen Moment lang stand er einfach nur zwischen den Bäumen und starrte in ihre Richtung. Dann richtete Zara sich langsam auf, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, und das war der Moment, als dem Unbekannten aufging, dass er entdeckt worden war.
Plötzlich lief ein Ruck durch die Kapuzengestalt zwischen den Bäumen, sie wirbelte herum und ergriff die Flucht. Im nächsten Moment war sie im Schutz des Dickichts verschwunden. Doch da war Zara längst mit einem Satz über die Leiche gesprungen und lief über die Lichtung, so schnell sie konnte.
Als der Mann mit der Signalpfeife sie mit wippendem Pferdeschwanz und wallendem Mantel wie einen schwarzen Pfeil über die Lichtung schießen sah, riss er fassungslos die Augen auf, und die Pfeife, auf der er so hartnäckig geblasen hatte, fiel ihm aus dem offenen Mund, weil ihm vor Fassungslosigkeit der Unterkiefer herunterklappte. „Was zum Teufel ...“, raunte er und verfolgte benommen, wie Zara zwischen den Bäumen verschwand. Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, so, als könne er nicht glauben, was er gerade gesehen hatte, und das war auch der Grund, warum er nie jemandem etwas davon erzählte, was er an jenem Abend auf der Lichtung erlebt hatte, aus Angst, sich das Ganze bloß eingebildet zu haben. Wer hätte ihm auch allen Ernstes geglaubt, dass die seltsame fremde Frau mit dem dunklen Haar und den durchdringenden Augen die fünfzig Schritte bis zum Waldrand in weniger als drei Sekunden zurückgelegt hatte? Niemand, der klaren Verstandes war.
XVII.
Zara lief durch den Wald, ein Schatten innerhalb von Schatten, umweht von ihrem Umhang, der sich hinter ihr bauschte wie die Flügel einer riesigen, grotesken Fledermaus. Obwohl ihr Gesicht so reglos und unbewegt wie immer war, flackerten ihre Augen vor Leben, rote Kohlengruben, angefacht vom Reiz der Jagd, der Zara mit aller Macht befallen hatte, als sie den Unbekannten fliehen sah. Geduckt, den Oberkörper tief nach unten gebeugt, hastete Zara durch das Unterholz, und obwohl sie so schnell lief, verursachte sie kaum einen Laut, als sie der Spur des Flüchtigen folgte. Ihr Blick war starr und unbeirrt nach vorn gerichtet, als wüsste sie genau, wohin sie laufen musste, und ihre Nasenflügel zitterten, als sie die kühle, nach Schnee und Tannen duftende Waldluft tief einsog.
Der Geruch des Unbekannten lag klar und deutlich in der Luft, eine Mischung aus kaltem Schweiß, Rauch und Leinen, angereichert durch den ach so süßen, unvergleichlichen Duft der Angst, den Zara so deutlich wahrnahm, als zöge der Unbekannte eine weithin sichtbare Leuchtspur hinter sich her, die sie so sicher durch das dichte Unterholz führte, als müsste sie einfach bloß einem erleuchteten Pfad in der Dunkelheit folgen. Mit jedem Schritt, den Zara so leichfüßig tat, dass ihre Füße kaum den Boden zu berühren schienen, nahm der Geruch weiter zu.