„Nicht so, dass ich damit prahlen könnte“, log Zara.
„Trotzdem solltet Ihr Euch besser zurückziehen“, sagte D’Arc; sein Blick war noch immer voller Sorge, doch da war noch etwas anderes, ein Ausdruck, den Zara nicht recht zu deuten vermochte. „Ruht Euch aus und lasst Eure Wunden versorgen, damit Ihr möglichst rasch wieder auf der Höhe seid, denn die Bestie streift noch immer durch diese Wälder, und jetzt, da Ihr wisst, womit wir es zu tun haben, benötigen wir Eure Hilfe mehr denn je.“
Zara nickte müde. „Zählt auf mich“, murmelte sie. Falk legte ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie, als die den Felsenkessel verließen. Die Lakaien wichen ängstlich vor ihnen zurück und machten ihnen Platz, als Zara an ihnen vorbeihumpelte. Bei jedem Schritt spürte sie die Bleikugeln in ihrem Fleisch, und obwohl sich der Schmerz in Grenzen hielt, hätte Zara doch gern darauf verzichtet.
Falks Pferd stand am Ausgang der Schlucht, die Zügel an einer Krüppelkiefer festgezurrt, doch bevor sie es erreichten, hörte Zara plötzlich schnelle Schritte im Schnee, und dann tauchte Gregor D’Arc neben ihnen auf. Im ersten Moment glaubte Zara, er habe ihr Lügengespinst, dass die Bestie all diese Männer getötet hätte, durchschaut und wollte sie zur Rede stellen, und instinktiv glitt ihre Hand in Richtung Schwertgriff. Aber als D’Arc vor ihr stehen blieb und sie ansah, war da keine Feindseligkeit in seinem Blick, bloß echte Sorge – Sorge um sie ...
„Bitte verzeiht meine Aufdringlichkeit“, begann D’Arc, und ganz entgegen seines sonstigen staatsmännischen Auftretens wirkte er auf einmal linkisch und unbeholfen, als wisse er nicht recht, wie er sich verhalten sollte. „Hättet Ihr vielleicht die Güte, mich über den Fortgang Eurer Genesung auf dem Laufenden zu halten? Euer Wohl liegt mir wirklich sehr am Herzen, und wenn ich Euch in irgendeiner Form Hilfe zukommen lassen kann, sei es durch Medikamente, Personal oder sonst irgendetwas, so zögert bitte nicht, es mich wissen zu lassen.“
„Nun“, sagte Zara scherzhaft, „ein Schnaps auf den Schrecken wäre wahrhaftig nicht verkehrt.“
Gregor D’Arc stutzte einen Moment, als überlegte er, sich möglicherweise verhört zu haben. Dann teilte dieses gewinnende Lächeln sein Gesicht, das Zara bereits am Vorabend in der Schenke aufgefallen war, und schlagartig war seine Unsicherheit wie fortgeblasen. Er strahlte. „Nichts lieber als das!“, erklärte er hocherfreut. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir bei einem kleinen Umtrunk am Abend in meinem Haus Gesellschaft leisten würdet. Ein paar Gläser Wein, vielleicht einen Happen zu Essen, alles völlig ungezwungen. Und natürlich nur, wenn Ihr Euch danach fühlt.“ Er sah sie erwartungsvoll an, und da war wieder dieser Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht recht zu deuten wusste. War es Neugierde? Interesse? Oder etwas anderes?
Einen Augenblick überlegte sie noch, dann hatte sie sich entschieden und nickte. „Ein Gute-Nacht-Trunk wäre fein.“
„Dann sehen wir uns später“, erklärte D’Arc lächelnd. „Ich werde Euch eine Kutsche schicken.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu seinen Begleitern. Er schaute sich nicht noch einmal nach ihnen um; vielleicht, weil er wusste, dass Zara genau darauf wartete, und er seine Motive, sie einzuladen, nicht zu deutlich zeigen wollte.
Falk sah ihm nach, wie er sich wieder zu seinen Begleitern gesellte. „Wenn diese Treibjagd schon nichts gebracht hat außer einem Dutzend sinnlos dahingeschlachteter Tiere, einem zerfetzten Mädchen und einer Bande toter Strauchdiebe, dann doch zumindest eine Einladung zum abendlichen Tete-a-tete mit dem Herrn Landgrafen.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Immerhin etwas.“
„Das ist kein Tete-a-tete“, protestierte Zara, ein wenig zu rigoros, um glaubhaft zu wirken.
„Na, was denn sonst?“, fragte Falk, während er ihr wieder den Arm um die Schultern legte und sie nebeneinander durch den dichter werdenden Schneefall zu seinem Pferd humpelten. „Durst kannst du nach diesem Saufgelage ja nun beim besten Willen nicht mehr haben ...“
XVIII.
Klong!
Das Geräusch, mit dem die kirschgroße Bleikugel in die Waschschüssel fiel, klang blechern und im höchsten Maße angenehm. Zara war heilfroh, die Kugeln endlich loszuwerden, die sich fingertief in ihr Fleisch gegraben hatten. Daran, wie sie vom Felskessel zurück in ihr Quartier im Güldenen Tropfen gelangt waren, konnte sie sich nur noch vage erinnern, denn sobald Gregor D’Arc außer Sicht gewesen war und sie zusammen mit Falk auf seinem Pferd saß, war die Erschöpfung über sie hereingebrochen wie eine gewaltige schwarze Welle. Teilweise lag das daran, dass der Kampf gegen die Meuchelmörder Zara mehr mitgenommen hatte, als sie zugeben wollte; größtenteils jedoch war dieser Schwächeanfall psychologischer Natur – ein Schutzmechanismus, damit sie sich nicht mit dem auseinander setzen musste, das sie eben getan hatte. Es war einfacher, sich dem Dunkel des Vergessens hinzugeben, als sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie innerhalb von Minuten mit allem gebrochen und alles in Frage gestellt hatte, wonach sie jahrelang gestrebt hatte, sich damit abzufinden, dass sie noch immer ein Monster war, ein Dämon, ein untoter Blutsauger ohne Gewissen, getrieben vom Durst und der Gier zu töten.
Zara stieß ein unterdrücktes Zischen aus, als ein dumpfer Schmerz durch ihre Schulter zuckte. Sie riss den Kopf herum, und Falk zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Tut mir Leid“, sagte er, in der linken Hand eine klobige Eisenpinzette, die ihnen die Frau des Wirts überlassen hatte, als sie vorhin in ihr Quartier zurückgekehrt waren, in der anderen eine Flasche Brandwein, der eigentlich dazu dienen sollte, Zaras Wunden zu desinfizieren, doch der Großteil des Alkohols hatte dafür herhalten müssen, Falks Hemmungen fortzuspülen. Zwei Kugeln hatte er bereits aus ihr rausgeholt, und bis er alle entfernt haben würde, war die Flasche mit Sicherheit leer. „Tut mir Leid, ich bin abgerutscht.“
„Schon gut“, brummte Zara und legte sich wieder auf den Bauch; ihre von einem halben Dutzend Kugeln durchlöcherte Bluse lag zusammengeknüllt neben dem Bett, und bis zur Hüfte war sie nackt. „Mach weiter.“
Falk nickte, zögerte, trank noch einen kräftigen Schluck und stellte die Flasche auf den Nachttisch, ehe er sich entschlossen mit Pinzette und Messer in den Händen über Zara beugte, die vor ihm auf dem Bett lag, nur noch mit Hosen und Stiefeln bekleidet. Unter anderen Umständen hätte es ihn vermutlich erregt, eine schöne junge Frau halbnackt vor sich auf dem Nachtlager liegen zu sehen, doch in diesem Moment hatte er nur Augen für die drei Einschusswunden, die Zaras Rücken zierten.
Falk setzte sich neben Zara auf die Bettkante, rückte die Öllampe auf dem Nachttisch so zurecht, dass ihr Schein flackernd über Zaras nackte Haut glitt, und nahm all seinen Mut zusammen, als er sich erneut über die Wunde in Zaras linker Schulter beugte und mit der Pinzette in den Wundkrater abtauchte. Zara verzog das Gesicht, als Falk bei dem Versuch, die Kugel zu fassen, erneut abrutschte.
„Autsch“, kommentierte Falk, wie um ihr die Worte aus dem Mund zu nehmen, und fügte scheinheilig hinzu: „Tut’s weh?“
Zara schnaubte. „Na, was denkst du wohl?“, blaffte sie. Dann merkte sie, dass sie Falk angeschnauzt hatte, und ihr Ton wurde sanfter. „Ich mag vielleicht nicht durch und durch menschlich sein“, sagte sie, „aber ich empfinde Schmerzen genauso wie jeder von euch, und wenn man mich töten will, dann ist nicht mehr nötig als bei euresgleichen, auch wenn ich ein wenig ... na ja, robuster bin als ihr und mehr einstecken kann.“
„Es blutet jedenfalls kaum“, sagte Falk, während er mit Messer und Pinzette weiter in der Wunde an Zaras rechter Schulter nach der Bleikugel fischte.