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Zara verdrängte den Gedanken und ließ den Blick in die Runde schweifen. Der milchige Schein des Mondes tauchte die Wildnis in düsteres Zwielicht. Das kleine Lagerfeuer war noch nicht gänzlich erloschen. Hier und da züngelten kleine rotgoldene Flammen in der Glut, und eine Windbö aus den Wäldern, die den Geruch von Schnee mit sich trug, wirbelte ein paar Funken auf. Zara hatte vielleicht eine Stunde geschlafen, keinesfalls länger.

Ein paar Schritte entfernt stand ihr schwarzer Hengst Kjell im matten Glanz des langsam ersterbenden Feuers und trabte müßig, als er bemerkte, dass Zara ihn ansah.

Zara setzte sich auf, nahm einen kleinen Stock zur Hand, der neben ihrer Decke auf dem Boden lag, und stocherte gedankenverloren in der Glut herum. Ein Schwarm Funken stob auf wie winzige Glühwürmchen und verging knisternd zu Nichts, doch Zara bemerkte es kaum. Ihr Blick war nach innen gerichtet. Auch wenn sie jedes Detail ihres immer gleichen Albtraums kannte, war sie jedes Mal geschockt darüber, wie ungemein realistisch er war. Noch immer schien es, als könnte Zara den Rauch riechen, der über das Schachtfeld zog, und die Erinnerung an das Blut der Magd, das ihre Kehle hinabströmte, bereitete ihr würgende Übelkeit. Sie versuchte, sich einzureden, dass es bloß ein Traum sei, ein Albtraum, Ausgeburt ihres gequälten Verstandes. Doch so einfach lagen die Dinge leider nicht.

Gedankenverloren starrte Zara in die schwelende Glut. Was brachte es, sich den Kopf über etwas zu zermartern, das man ohnehin nicht ändern konnte?

Nichts.

Doch ihre Gedanken drehten sich weiter im Kreis.

Das ist es, was ich bin, hörte sich Zara im Geiste selbst sagen, und daran wird auch die Ewigkeit nichts ändern ...

„Unsinn“, murmelte sie und war erschrocken, wie dünn ihre Stimme klang, fast resigniert. „Die Zeiten haben sich geändert. Ich habe mich geändert...“

Das stimmte wohl. Doch trotzdem dürstete es sie – nicht nach Blut, Gott bewahre, sondern nach menschlicher Gesellschaft, nach den Stimmen und dem Lachen und dem Lärmen anderer vernunftbegabter Wesen. Sie hatte schon seit Wochen niemanden mehr zu Gesicht bekommen, weil sie sich mit Absicht fern der Hauptreiserouten und Handelswege hielt. Doch auch Zara brauchte hin und wieder das Gefühl, nicht vollkommen allein auf der Welt zu sein; das Gefühl, dass es dort draußen noch andere gab, Menschen – Männer, Frauen und Kinder –, die einfach ihr Leben lebten und keinen Gedanken daran verschwendeten, was einst war oder vielleicht bald sein würde.

Der Augenblick war alles, was zählte.

Und das, was man daraus machte.

Zara warf den Stock in die Glut und traf eine Entscheidung: Es war an der Zeit zurückzukehren, wenn auch nur vorübergehend. Burg Hohenmut lag gut eine Tagesreise entfernt. Ein wenig Ablenkung würde ihr mit Sicherheit gut tun und sie auf andere Gedanken bringen. Und womöglich gab es in den unzähligen Spelunken und Etablissements jener Stadt ja sogar wirklich den einen oder anderen guten Tropfen ...

III.

Burg Hohenmut war Heimstatt der Herrscher von Ancaria seit den Zeiten König Aarnums I. Es schien Ewigkeiten her zu sein, seit Zara Hohenmut zum letzten Mal besucht hatte, und die Erinnerung daran war nicht gut. Blut war geflossen, es hatte viele Tote gegeben, und zum Schluss hatte sie fliehen müssen.

Seit im Königreich friedliche Zeiten eingekehrt waren, hatte sich Hohenmut zu einem Hort der Macht entwickelt, des Handels und der Kultur, reich an Tavernen, Schmieden, Stallungen und Ladengeschäften aller Art. Längst vergangen waren die Tage, als die Felder rings um die Burg blutgetränkt waren und die Luft erfüllt war vom Wehklagen der Witwen. Die Stadt war gewachsen wie ein lebendiges Wesen; immer mehr Menschen hatten sich im Schatten der uralten Trutzburg angesiedelt, die mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen und Erkern weithin sichtbar über der Stadt aufragte. So mochten es gut und gern zehntausend Häuser sein, die sich wie Schutz suchend an den Felsen drängten, auf dem die Burg errichtet war. Aus Hunderten Schornsteinen stieg weißer Rauch in den wolkenlosen Himmel, und von den Giebeln der spitzen, schiefergedeckten Dächer hingen vereinzelt Eiszapfen. Noch war der Winter nicht mit aller Macht über das Königreich hereingebrochen, doch der Wind, der flüsternd über das Land strich, trug bereits den Duft des ersten Schnees mit sich. Nicht mehr lange, und die Frostriesen würden Ancaria in ihrem eisigen Griff gefangen halten.

Zara war den ganzen Tag geritten. Es dämmerte bereits, als sie Hohenmut erreichte. Ein Wanderzirkus hatte vor den Toren der Stadt seine Zelte aufgeschlagen, und als Zara an den Wagen, den Zelten und dem großen Festzelt vorbei dem gepflasterten Pfad zum riesigen Haupttor folgte, stieg ihr der scharfe Geruch von Raubkatzen in die Nase. Offenbar war die letzte Vorstellung des Tages gerade vorbei, denn einige Schausteller saßen in ihren aufwändig genähten Kostümen auf ein paar Holzkisten, rauchten Schnüffelkraut, einen ungemein starken, aromatischen Tabak aus dem Grenzland zur Wüste von Khorad-Nur, dem gewisse halluzinogene Eigenschaften zugeschrieben wurden, und ließen eine Flasche Selbstgebrannten kreisen. Die Männer mit ihren grell geschminkten Clownsgesichtern warfen Zara aus alkoholglänzenden Augen neugierige Blicke zu, als sie auf Kjell gemächlich an ihnen vorübertrottete. Doch trotz des Suffs wagte keiner von ihnen, Zara anzusprechen; vielleicht spürten sie instinktiv, dass dies kein so guter Einfall gewesen wäre.

Dennoch zog Zara die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht, um ihre Züge zu verbergen; es war unwahrscheinlich, dass jemand sie nach all den Jahren wiedererkannte, doch sie wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

Vor ihr wuchs das Stadttor von Hohenmut empor. Die beiden gewaltigen, zwanzig Meter hohen Torflügel standen offen; dahinter breitete sich der Marktplatz der Stadt aus, ein labyrinthisches Durcheinander aus Zelten und Ständen, in dem man für klingende Münze angeblich alles bekam. In einer Wachhütte rechts neben dem Tor kauerte ein Soldat auf einem Hocker, beide Hände um seinen Speer gelegt, den er als Stütze missbrauchte; er schnarchte mit offenem Mund. Zara bedachte den Wachmann mit einem Kopfschütteln, doch insgeheim war sie froh, keine Rechenschaft über ihre Person ablegen zu müssen und darüber, was sie nach Burg Hohenmut verschlagen hatte – nicht, weil sie gezwungen gewesen wäre, zu lügen, sondern weil ihr Verlangen nach menschlicher Nähe und Gesellschaft nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie mit den Menschen reden wollte; sie wollte einfach nur in ihrer Mitte sein und ein wenig Leben um sich herum spüren.

Während der Torwächter weiter friedlich vor sich hinschnarchte, trabte Kjell gemächlich an ihm vorbei unter dem gewaltigen Torbogen hindurch. Obwohl Zaras letzter Besuch schon etliche Jahre zurücklag und sich seitdem einiges verändert hatte, bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Östlich des Stadttors ragten die Häuser der wohlhabenden Bürger von Hohenmut auf, während sich weiter nördlich die gepflegten mehrstöckigen Fachwerkhäuser des Mittelstands Giebel an Giebel reihten. Doch Zaras Ziel lag woanders, im Westen der Stadt, wo sich die heruntergekommenen Gebäude von Tavernen, Theatern und Freudenhäusern zu einem labyrinthischen Wirrwarr dunkler Gassen zusammenschlossen. Nach Einbruch der Nacht wurden sie bevölkert von jeder Menge zwielichtigen Gesindels, dem man bereits im Hellen besser aus dem Weg ging. Diebe, Falschspieler, Meuchelmörder oder Luden – in der Unterstadt trieben sich fast so viele zwei- wie vierbeinige Ratten herum.