Falk stutzte. „Du bist gestorben? Dann bist du ... tot?“ Zara nickte. „Organisch gesehen, ja“, bestätigte sie. „Wie auch immer: Sie begruben mich zusammen mit den übrigen Gefallenen der Schlacht in einem riesigen Massengrab hinter der Feste, zwischen Hunderten toter Zwerge und Menschen; die Dunkelelfen hingegen wurden nicht in der Erde verscharrt, sondern verbrannt. Als ich zwei Tage später wieder zu mir kam und mich verwirrt und benommen durch Hunderte und Aberhunderte verfaulender Toter und meterdicke Schichten Erde nach oben an die Oberfläche wühlte, stieg noch immer Rauch von den Scheiterhaufen ...“ Sie trank noch einen Schluck Schnaps. „Ich taumelte über das Feld vor der Burg, und der Löschkalk brannte sich wie Feuer in meine Haut, doch ich merkte es kaum. Ich wusste zunächst nicht mal, wo ich war – oder was mit mir passiert war. Mein Kopf war leer, erst nach und nach kam die Erinnerung zurück, und als ich begriff, was mir widerfahren war – was ich bin –, da starb Sara von Lahnstein ein zweites Mal, und Zara wurde geboren ...“ Sie verstummte und sagte nichts mehr, den Blick in die Vergangenheit gerichtet, den Geruch von brennenden Dunkelelfen in der Nase.
Falk schwieg ebenfalls, von Zaras Bericht in gleichem Maße fasziniert und erschüttert. Er kannte all die Schauergeschichten über Wiederkehrer und Nachzehrer. Aus ihren Gräbern hörte man tagsüber ein verstohlenes Schmatzen und Schaben. Nachts aber erhoben sie sich, um als Untote jene Menschen heimzusuchen, die sie einst liebten, um sie zu sich in die kalte, tote Erde zu holen. In Schiefersal, dem kleinen Dorf im nordwestlichen Hinterland von Ancaria, in dem Falk aufgewachsen war, ging damals, als Falk noch ein Kind gewesen war, das Gerücht um, ein Wiederkehrer triebe des nachts auf dem Friedhof sein Unwesen. Man wusste, wer es war – sein Name war Argon. Bis zu seinem Tod war er der angesehenste Mann von Schiefersal gewesen, wohlhabend, respektiert und von den Göttern mit so vielen Kindern und Kindeskindern gesegnet, dass das größte Haus im Dorf nötig war, sie alle unter einem Dach zu versammeln. Dann verschwand der Händler Argon eines Tages auf dem Weg nach Krähenfels, wo er Geschäfte zu tätigen hatte. Man suchte eine Woche lang nach ihm, bis man seinen zerschundenen Leichnam schließlich halb verscharrt im Wald fand; wie es schien, war er überfallen, beraubt und erschlagen worden. Das ganze Dorf versammelte sich, um Argon auf dem Totenacker neben der kleinen Kirche zu Grabe zu tragen. Sechs Monate nach seinem Begräbnis schwor der Küster, Argon über den Friedhof wandeln gesehen zu haben; am nächsten Tag sahen ihn noch zwei Menschen im Dorf, wie er am sein altes Haus schlich. Tagsüber hörte man angeblich seltsame Laute aus Argons Grab, und schnell wurden Stimmen laut, dass Argons Geist, voller Wut und Hass über das große Unglück, das ihm widerfahren war, in seinen Körper zurückgekehrt war, um als lebender Toter nach dem Blut der Seinen zu trachten. Hysterie machte sich breit. Der Priester des Orts versuchte, die aufgebrachte Meute davon abzuhalten, seinen Friedhof zu entweihen, doch die Angst trieb die Leute an, und so gruben sie mittags an einem strahlenden Frühsommertag Argons Sarg aus und wuchteten ihn mit Seilen nach oben auf den Friedhof. Falk, damals noch ein kleiner Junge, hatte sich mit all den anderen Schaulustigen auf dem Friedhof eingefunden, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Als die Männer den Sarg bei strahlendem Sonnenlicht öffneten, hatte er insgeheim damit gerechnet, dass der Tote die leuchtend roten Augen aufreißen, seine Vampirzähne fletschen und in einem gewaltigen Feuerball zu Staub zerfallen würde, doch obwohl die Sonnenstrahlen ihm voll ins Gesicht schienen, geschah nichts. Der Tote lag einfach nur reglos in seinem Sarg, die Augen geschlossen, die Arme in einer betenden Pose über der Brust verschränkt, so, wie man ihn zu Grabe getragen hatte. Nichts deutete daraufhin, dass er seinen Sarg jemals verlassen hatte. Und doch jagte der Anblick des friedlich daliegenden Toten dem jungen Falk mehr Angst ein als alles davor und so manches danach. Denn etwas an Argon war anders als an dem Tag, als man ihn zu Grabe getragen hatte: Sein Haar war länger geworden und wallte in langen Locken um seine Schultern, und unter seinen langen, scharfen Fingernägeln klebte etwas, das entweder Erde oder getrocknetes Blut sein mochte. Doch viel wichtiger noch war, dass Argon überhaupt nicht aussah, als wäre er seit einem halben Jahr tot. Obwohl er bereits seit sechs Monaten in der Erde ruhte, zeigte sein Körper keinerlei Anzeichen von Verwesung; im Gegenteil. Argons Lippen waren rot und voll, über seinen Wangen lag ein Hauch von Röte, und auch wenn Falk sich damals einredete, dass er sich das nur einbildete, fand er, dass Argon irgendwie wohlgenährt aussah, wie nach einem guten, üppigen Mahl...
Gleichwohl, nichts deutete darauf hin, dass Argon der Nachzehrer war, vor dem die Alten sie gewarnt hatten, und so hämmerten sie Argons Sag wieder zu und ließen ihn wieder in die Erde hinab – jedoch erst, nachdem sie ihm den Kopf abgetrennt und ihn mit dem Gesicht nach unten wieder in die Totenkiste gelegt hatten. „Zur Sicherheit“, wie Falks Großmutter ihm erklärte, als sie ihn wie jeden Abend zu Bett brachte. „Damit er seinen Frieden findet.“
Offenbar hatte Argon tatsächlich seinen Frieden gefunden, denn fortan sah ihn niemand mehr des nachts durchs Dorf schleichen, und auch die seltsamen Laute aus seinem Grab hörte niemand mehr, was jedoch wenig dazu beitrug, Falk die Angst vor einem Spaziergang über den Friedhof zu nehmen. Insgeheim fürchtete er stets, aus den Gräbern würden bleiche Hände nach seinen Fußgelenken greifen, wenn er den Pfad zwischen den Gräberreihen entlangging, um ihn hinunter in die Erde zu ziehen.
Doch seit heute wusste er, dass er sich vor Friedhöfen nicht zu fürchten brauchte; die Untoten lagen nicht in ihren Gräbern – sie weilten unter den Lebenden, spazierten durch die belebten Straßen der Städte, auf den ersten Blick nicht von denen zu unterscheiden, an denen sie sich labten, unscheinbare Gestalten, denen niemand etwas Böses zutraute.
Doch war das nicht gerade die größte Gefahr, die dem Bösen innewohnte? Dass es sich mit dem Deckmantel der Normalität getarnt mitten unter den Sterblichen befand, unerkannt und unangefochten?
Der Nordwind wehte Schnee wie Puderzucker gegen das Fenster, und der Wind pfiff leise durch die Winkel und Ecken des Hauses, doch das, was sonst unheimlich gewirkt hätte, wirkte jetzt eher beruhigend auf Falk. Er machte sich wieder an Zaras Wunden zu schaffen und bemühte sich eine Weile schweigend, die letzte Bleikugel aus Zaras Oberschenkel zu entfernen, während sie schweigend dalag, den Blick in sich gekehrt, ganz in ihren Erinnerungen gefangen.
„Was ist aus ihr geworden?“, fragte Falk nach einer Weile.
„Hm?“, machte Zara; es war, als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen.
„Die Vampirin, die dir den Blutkuss gab“, sagte Falk. „Was wurde aus ihr?“
Zara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, gestand sie. „Nachdem sie in den Stollen unter der Burg verschwunden war, sah ich sie nie wieder. Ich weiß bis heute nicht, wer sie war, obwohl es nicht allzu viele von uns gibt. Vampire mögen keine Konkurrenz ums Futter; aus diesem Grund töten sie jeden, an dem sie sich laben, um keine Nachkommen zu schaffen. Dass ich ,geboren’ wurde, war ein Versehen, keine Absicht.“
„Vielleicht ist das der Grund“, mutmaßte Falk.
„Der Grund wofür?“, fragte Zara.
„Dass du versuchst, den Menschen zu helfen“, sagte Falk. „Ich meine, in all den Geschichten, die man über euch hört, geht es immer nur darum, wie böse Vampire sind, aber du versuchst, Gutes zu tu ...“
„Ich bin böse“, unterbrach Zara ihn harsch und wurde unvermittelt laut. „Sonst hätte ich wohl kaum diese armen Männer heute Abend abgeschlachtet, oder hast du das etwa schon vergessen?“ Sie sah Falk an, und jetzt war ihr Blick zugleich hart und von großer Traurigkeit erfüllt. „Vergiss nie, was ich bin“, sagte sie eindringlich. „Dass ich Dinge getan habe, die so abscheulich sind, dass du sie dir nicht einmal vorstellen kannst. Vergiss nie, dass ich dich und jeden anderen innerhalb eines Wimpernschlags zu euren Göttern schicken könnte. Oder, noch schlimmer, ich könnte euch zu meinesgleichen machen: wandelnde Tote, seelenlos und grausam, dazu verdammt, auf ewig nach dem Blut der Lebenden zu gieren und Tod und Verzweiflung über die Menschen zu bringen.“ Sie starrte Falk durchdringend an und sagte leise: „Findest du wirklich, dass das etwas Gutes ist?“