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Falk hielt ihrem durchdringenden Blick einen Moment lang stand. Dann senkte er den Kopf, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, pulte weiter mit der Pinzette in der Wunde herum, bekam die Bleikugel endlich zu fassen und riss sie mit einem harten Ruck aus der Wunde.

Klong!

„Evoilá“, kommentierte Falk, als er die Kugel in die Schale plumpsen ließ. „Das war die letzte.“

„Danke“, murmelte Zara, die es plötzlich sehr eilig hatte, ihre Blöße zu bedecken. Sie richtete sich hastig auf. Ihre Satteltaschen hingen über dem Stuhl neben der Tür. Sie kramte darin herum und förderte nicht nur eine unversehrte Bluse aus weißem Stoff zutage, sondern auch ein bodenlanges schwarzes Kleid mit einem atemberaubenden Ausschnitt an Rücken und Dekollete, einem zarten Spitzengeflecht an den Säumen und einem in den Stoff eingearbeiteten Korsett. Sich Falks neugieriger Blicke wohl bewusst, schlüpfte sie aus ihren Lederhosen, zog die weiße Bluse an und streifte sich das Kleid über den Kopf; es raschelte leise, als der Stoff an ihrem nackten Körper hinab zu Boden glitt. Das Korsett ließ sich seitlich schnüren, sodass sie Falk nicht um Hilfe bitten musste, und das war ihr nur recht; irgendetwas war plötzlich anders zwischen ihnen. Lag es daran, dass er nun Dinge über sie wusste, von denen sie zuvor noch niemanden erzählt hatte? Dass er jetzt wusste, wer sie wirklich war? Oder lag es daran, dass seine Weigerung, zu akzeptieren, dass sie böse war, ihr Hoffnung gab? So oder so, nach dem heutigen Tag würde zwischen ihnen nichts mehr so sein wie zuvor, doch ob das gut oder schlecht war, musste sich erst zeigen.

Zara rückte das Kleid zurecht und schnürte das Korsett so fest, dass ihre Taille noch schmaler wurde und ihr Busen unter der dünnen weißen Bluse verführerisch hervorgehoben wurde. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie das Kleid zum letzten Mal getragen hatte, doch es passte immer noch wie angegossen und brachte ihre weiblichen Rundungen auf eine Weise zur Geltung, dass Falk leise durch die Zähne pfiff.

„Du liebe Güte“, raunte er fassungslos, als sie sich im Schein der Öllampe umdrehte. „Du siehst ...“, er schluckte, „fantastisch aus.“

„Glaubst du, ich werde ihm gefallen?“, fragte Zara zaghaft.

„Oh, meine Liebe“, schwärmte Falk hingerissen. „Selbst ein Blinder würde dich in diesem Aufzug atemberaubend finden!“

Zara lächelte schüchtern, doch obwohl sie zugeben musste, dass es ein gutes Gefühl war, das Kleid zu tragen – wenn auch ein ungewohntes –, war ihr doch irgendwie seltsam zu Mute, als hätte sie mit ihrer Kleidung auch ihre Persönlichkeit gewechselt. Voller Befangenheit starrte sie auf ihre Hände; unter ihren Fingernägeln zeichneten sich noch immer dunkle Halbmonde getrockneten Blutes ab, wie Erinnerungen, die sie nicht abzuschütteln vermochte. Als würde Falk irgendwie ihre Gedanken lesen, legte er das Messer und die Pinzette in die Schale mit den Bleikugeln, kam zu ihr herüber und legte ihr sanft links und rechts die Hände auf die Schultern, um sie so mit sanftem Druck dazu zu zwingen, ihn anzusehen.

„Ich habe keine Angst vor dir“, sagte er ruhig. „Und egal, was du früher getan haben magst, jetzt sehe ich, dass du gut sein willst, und das ist mehr, als die meisten normalen Menschen von sich behaupten können – mich eingeschlossen. Also hör auf, dich schlechter zu machen, als du bist, und lass den Tod endlich hinter dir. Du bist schon so lange tot, dass du fast schon verlernt hast, was es bedeutet, zu leben. Doch das muss nicht so sein. Folge einfach weiter dem Weg, den du eingeschlagen hast, dann wird dir eines Tages die Absolution zuteil werden, nach der du dich so sehnst.“

Zara schluckte; sie konnte sich nicht erinnern, dass jemals jemand so mit ihr gesprochen und mit so einfachen Worten auf den Punkt gebracht hatte, was ihr ganzes Dasein bestimmte. Sie überlegte, was sie sagen, wie sie sich verhalten sollte, jetzt, da er von ihrem schlimmen Geheimnis wusste, doch bevor noch ein Wort über ihre Lippen kam, klopfte es an der Tür. Poch! Poch! Poch!

Falk wandte den Kopf. „Das muss Ela sein.“ Zara runzelte die Stirn. „Ela? Jahns Schwester?“ Falk nickte, bevor er lächelnd in seinen Mantel schlüpfte. „Nicht nur du hast heute Nacht ein Tete-a-tete“, erklärte er, während er einen Blick in den halb blinden Spiegel neben der Tür warf, um sich mit allen zehn Fingern ordnend durch die zerwühlte Haarpracht zu fahren.

„Es ist kein Tete-a-tete“, sagte Zara erneut, doch dann erinnerte sie sich daran, wie sie aussah, und lächelte schuldig. „Nun ja, vielleicht doch.“

„Dann genieß es“, sagte Falk auf dem Weg zur Tür. Ich werde es jedenfalls tun!“

Er öffnete die Tür, und draußen auf dem schmalen Korridor stand tatsächlich Ela, die schlanke Gestalt in einen einfachen, wenn auch kleidsamen Mantel gehüllt, die Haare unter einer großen Ledermütze verborgen, die Wangen gerötet von der Kälte; Schnee schmolz auf ihren Schultern. Als Falk vor sie trat und ihr zur Begrüßung einen schüchternen Kuss auf die Wange hauchte, lächelte sie nicht nur, sie strahlte, und die sanfte Röte in ihrem Gesicht schien noch eine Spur intensiver zu werden. Ela winkte Zara im Zimmer schüchtern zu, dann legte Falk den Arm um sie, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Zara blieb allein zurück.

Sie hörte, wie sich die Schritte der beiden auf dem Gang entfernten, hörte das dumpfe Pumpern, mit dem sie die Stufen ins Erdgeschoss hinabstiegen, und das leise, fröhliche Lachen, das ihre Schritte begleitete, war so frei und unschuldig, dass Zara einen Anflug von Neid verspürte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wann sie sich das letzte Mal so frei und unbeschwert gefühlt hatte. Oder ob überhaupt jemals.

Sie trat ans Fenster und sah, wie Falk und Ela draußen über den Platz gingen. Falk hielt die junge Frau fest im Arm, und sie schmiegte sich zärtlich an ihn, während sie beschwingten Schritts durch den wirbelnden Schneefall davongingen. Was immer sie auch vorhatten, sie würden gewiss ihren Spaß dabei haben ...

Zara seufzte schwer und sah den beiden Turteltauben nach, wie sie sich im dichter werdenden Schneegestöber eng umschlungen entfernten. Dann vernahm sie von draußen ein Rumpeln und Knarzen und das verhaltene Schnauben mehrerer Gäule, und als sie den Blick senkte, sah sie unten vor der Schenke ein Gespann mit vier Pferden anhalten. Der Kutscher auf dem Bock hielt seine Peitsche lose in der Hand, das Gesicht in den Schatten des breitkrempigen Huts verborgen, und wartete. Jedes Mal, wenn die Pferde schnaubten, schoss weißer Atem wie Rauch aus ihren Nüstern. Auf der Seitentür der Kutsche prangte ein goldenes Wappen; es zeigte zwei Löwen, die über einer mit Eichenlaub bekränzten Krone mit drohend erhobenen Klauen und wütend aufgerissenen Mäulern gegeneinander kämpften. Sie hatte dieses Wappen schon einmal gesehen, heute Morgen. Auf dem Schild von Gregor D’Arc.

Zara zögerte noch einen Moment, unschlüssig, ob es so klug war, was sie vorhatte. Dann wandte sich mit einem Ruck vom Fenster ab. Falk hatte Recht: Sie war schon zu lange tot; es wurde allmählich Zeit, dass sie ins Leben zurückkehrte!