Und sei es auch nur für eine Nacht.
XIX.
Die Kutsche rollte durch die Nacht, ein dunkler Schemen vor dem Schwarz des Forsts, das nur dann erhellt wurde, wenn der auffrischende Westwind die Wolken einen Moment auseinander riss, sodass ein paar schwache Strahlen Mondlicht die Welt mit ihrem silbrigen, matten Schein tünchten. Seit Zara die Taverne verlassen hatte, hatte der Wind noch weiter aufgefrischt, und nun wiegten sich die Wipfel der Bäume am Waldrand in einer eisigen Brise, die den Geruch von noch mehr Schnee und Kälte in sich trug. Die letzten Häuser von Moorbruch lagen bereits seit einigen Minuten hinter ihnen; jetzt rumpelte die Kutsche einen Pfad aus festgestampfter Erde entlang durch die Dunkelheit, und alles, was noch an Zivilisation erinnerte, waren die halb vermoderten, windschiefen Holzzäune, die den Pfad vom Moor abgrenzten.
Zara schaute aus dem Fenster auf die Landschaft, die draußen im Zwielicht vorbeihuschte, und versuchte, ihrer Unruhe Herr zu werden. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihrem inneren Drang nachzugeben und in die Kutsche zu steigen; vielleicht hätte sie besser daran getan, allein in ihrem Zimmer zu bleiben und auf Falks Rückkehr zu warten. Doch nun war es zu spät; nun war sie auf dem Weg zum Anwesen von Gregor D’Arc, und alles, was geschehen sollte, würde geschehen.
Das war nun mal der Lauf der Dinge.
Sie lehnte sich auf der Sitzbank zurück und schloss für einen Moment die Augen. Von den Wunden, aus denen Falk die Kugeln entfernt hatte, ging noch immer ein dumpfer Schmerz aus, wie von einem kaputten Zahn, doch spätestens morgen würden ihre Verletzungen vollkommen verheilt sein, und alles, was dann noch an das Geschehen im Talkessel erinnerte, waren die Narben auf ihrer geschundenen Seele. Nicht, dass diese Narben zwischen all den anderen, die ihre Seele im Laufe des letzten Millenniums erhalten hatte, großartig aufgefallen wären ...
Sie schreckte aus ihren Grübeleien auf, als sich die Kutsche in eine lang gezogene Rechtskurve legte; die Wälder am Wegesrand wichen weiter zurück, und dann tauchte das Anwesen von Gregor D’Arc im Fenster auf, ein riesiges zweigeschossiges Herrenhaus mit einem palastähnlichen Hauptgebäude und zwei kleineren Flügeln links und rechts. Früher einmal musste der Stuck des Bauwerks weiß gewesen sein, doch die Zeit und die Witterung hatten ihn grau und brüchig werden lassen; hier und da waren große Brocken aus dem Mauerwerk gebrochen, und mehr als eins der vielen Fenster war zersprungen oder blind vom Alter. Doch das änderte nichts an der Imposanz des Gebäudes, das man eher in einem Vorort von Mascarell erwartet hätte als hier im hintersten Winkel der bekannten Welt.
Die Kutsche folgte dem Pfad in einem geschwungenen Bogen um ein Rondell herum zur Haupttreppe des Anwesens. Entlang der Auffahrt brannten Ölfeuer in Schalen auf Dreifüßen, und der unstete Schein der Flammen glitt über die Fassade des Haupthauses wie ein lebendes Wesen, geschaffen einzig aus Licht und Schatten. Dann kam die Kutsche ruckend vor der Treppe zum Stehen, und bevor Zara nach dem Türknauf greifen konnte, war der Kutscher bereits da, hielt ihr die Tür auf und zog sich hastig den Hut vom Kopf, um fast unterwürfig zu Boden zu schauen. Doch obwohl der Kutscher nichts sagte und sie nicht offen anschaute, spürte sie deutlich seine Blicke im Rücken, als sie durch den Schnee zur Treppe ging, und einen Moment lang glaubte sie, er wüsste, was sie heute getan hatte, und starrte sie deshalb so an – weil er wusste, was für ein Monstrum sie in Wirklichkeit war. Doch das war natürlich Blödsinn; außer Falk wusste niemand, was sich wirklich in dem Felskessel zugetragen hatte. Wäre es anders gewesen und hätte von der Wehr oder Salieri oder sonst jemand aus Moorbruch auch nur den leisteten Verdacht gehabt, wäre längst ein aufgebrachter Lynchmob – angeführt von Salieri, die Heilige Schrift in den Händen und Feuer im Blick – mit Forken und Lanzen und Fackeln hinter ihr hergewesen, um das Böse „auszutreiben“. Wie vor ein paar Stunden im Wald drangen Rufe aus ihrer Vergangenheit an ihr inneres Ohr – Monster!
Tötet das Monster! –, doch Zara schob diese schlimmen Erinnerungen beiseite, bevor sie sich in ihrem Verstand festsetzen konnten, raffte ihren Rock und stieg entschlossen die breiten, ausgetretenen Steinstufen hinauf.
Aus den Fenstern des Haupthauses fiel warmer rotgoldener Lichtschein nach draußen in den Schnee. Dann stand Zara oben vor dem mit schweren eisernen Türbeschlägen versehenen Eichentor, das sie fast ums Doppelte überragte, streckte die Hand aus und schlug den schweren Türklopfer in Form eines Löwenschädels gegen das dunkle Holz. Nur wenige Augenblicke später schwang der rechte Türflügel bereits mit einem verhaltenen Quietschen auf, und Zara schaute in das hagere, ja, beinahe asketische Antlitz eines ältlichen Mannes, den sein dunkler Anzug und sein steifes Auftreten als Diener brandmarkten.
„Mademoiselle“, sagte er huldvoll und verneigte sich leicht. „Der Herr erwartet Euch bereits. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet...“
Er schloss den Torflügel hinter ihr und führte sie mit gesetzten Schritten durch die Eingangshalle und das anschließende Labyrinth aus Korridoren in den Westflügel des Hauses. Von außen hatte das Anwesen bereits groß gewirkt, doch von innen schien es noch gewaltiger. Die Korridore, durch die sie dem alten Diener folgte, waren beinahe drei Meter breit, die Decke doppelt so hoch wie sie selbst, und von dem Hauch von Verwahrlosung, der sich an der Fassade des Bauwerks zeigte, war drinnen nichts zu sehen. Im Gegenteil, die dicken Teppiche, die jeden Zentimeter Boden bedeckten, die gerahmten Gemälde und Gobelins an den Wänden und die edlen alten Möbel, die hier und da für Akzente sorgten, schufen eine Atmosphäre von Gediegenheit und Luxus, die von den pompösen Kronleuchtern, den edlen Stofftapeten und den geschickt in die Architektur des Gebäudes eingefassten Säulen noch verstärkt wurde. Überall brannten Kerzen in siebenarmigen Ständern, von denen der angenehme Duft von parfümiertem Wachs aufstieg; es duftete nach Jasmin und Veilchen und Sommer, und Zara atmete den Duft tief ein.
Als sie an einem fast deckenhohen Spiegel mit goldenem Brokatrahmen vorbeikamen, erhaschte Zara eher zufällig einen Blick auf ihr Spiegelbild. Durch ihren Hinterkopf huschte der Gedanke, dass Vampire der Legende nach kein Spiegelbild hatten. Vielleicht traf das sogar auf einige der Untoten zu – sie wusste es nicht –, bei ihr allerdings nicht, und trotzdem vermied sie es normalerweise, sich im Spiegel zu betrachten, als fürchtete sie sich vor dem, was sie zu sehen bekam. Doch als sie sich jetzt im Vorbeigehen darin erblickte – eine hoch gewachsene, schlanke Frau in einem wallenden schwarzen Kleid, einen Umhang locker um die schlanken Schultern geworfen, mit langem schwarzem Haar und einem schönen, fein geschnittenen Gesicht mit großen grünen Augen und vollen Lippen –, stellte sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass sie gut aussah; sogar besser, als sie angesichts der jüngsten Ereignisse für möglich gehalten hätte.
Sie sah aus wie das blühende Leben. Doch noch verblüffender war, dass sie sich auch so fühlte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es an dem Blut lag, das sie getrunken hatte, oder daran, dass sie so aufgeregt war wie seit langem nicht mehr; doch was auch immer es war, es sorgte dafür, dass Zara sich stark fühlte, energiegeladen und – lebendig ...
Der Diener blieb vor einer deckenhohen Flügeltür am Ende eines weiteren Korridors stehen, ergriff beide Türknäufe und schob beide Flügel gleichzeitig auf. Sie schwangen lautlos nach innen, und warmer, goldener Feuerschein fiel durch den größer werdenden Spalt.
Dann stand die Tür offen, und der Boden des Speisesaals breitete sich vor Zara in einem Karomuster aus schwarzen, braunen und mattweißen Fliesen bis ans ferne Ende des riesigen Raums aus. Genau wie der Rest des Hauses erwies sich auch der Speisesaal als Hort von schlichtem Luxus: Von der Decke hingen lange goldbestickte Wandteppiche mit Jagdmotiven, hier und da bedeckten dicke handgewebte Teppiche den Boden, und in dem mannshohen Kamin prasselte ein wärmendes Feuer. Entlang der Wände standen halb hohe, säulenartige Podeste, auf denen Marmorbüsten von Männerköpfen thronten. Beherrscht wurde der Saal jedoch von einem riesigen, beinahe acht Meter langen Ungetüm von einem Eichentisch, an dessen Längsseiten jeweils über ein Dutzend Stühle standen. An den Kopfenden befanden sich wuchtige Ledersessel mit hohen Lehnen, und nur dort war der Tisch eingedeckt mit edlem Geschirr und blitzendem Kristall. Trotzdem reihten sich auf der Tafel unzählige mit Silberhauben abgedeckte Schlüsseln, Terrinen, Servierplatten und Kasserollen, als würde der Hausherr ein ganzes Bataillon Gäste erwarten. Dazwischen standen gewaltige Kerzenleuchter mit brennenden Duftkerzen, und in großen Vasen staken Sträuße frischer Blumen, deren Duft sich mit dem Rauchgeruch des Feuers und dem Parfüm des schmelzenden Kerzenwachses zu einer betörenden Mixtur verband.