Zara vergrub ihre Finger in sein Haar und ergab sich ganz dem Gefühl, das sie vom Scheitel bis zur Sohle erfüllte.
Schließlich hörte sie seine geflüsterten Worte an ihrem Ohr. „Komm!“, sagte er leise und drängend. „Willst du mit mir nach oben gehen?“
Zara nickte. „Ja“, raunte sie und erhob sich. „Ja, das will ich.“
Sie wollte ihre Kleider ordnen, für den Fall, dass sie auf dem Weg in Gregors Schlafzimmer auf irgendwelches Dienstpersonal stießen, doch Gregor schüttelte nur ungeduldig den Kopf, ergriff mit sanfter Gewalt ihr Handgelenk und führte die junge Frau in den hinteren Teil des Speisesaals, dorthin, wo der Kamin einen Großteil der Wand einnahm. Rechts davon hing das goldgerahmte Gemälde eines Ritters in voller Rüstung in Lebensgröße. Das offene Visier gab den Blick auf ein maskulines bärtiges Gesicht frei, das eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit Gregor aufwies. Eine Hand stützte sich auf ein Schild mit dem Familienwappen, die andere ruhte auf dem wuchtigen Griff eines zu Boden zeigenden Breitschwerts. Von einer Tür jedoch oder einer Treppe, die sie hinauf in Gregors Schlafgemach gebracht hätte, war weit und breit nichts zu sehen.
Zara warf Gregor einen irritierten Blick zu, er aber trat lächelnd vor, um den Kopf der nächststehenden Marmorbüste umzulegen, woraufhin das Rittergemälde mit einem vernehmlichen Knarren nach innen schwang und den Blick auf eine verborgene Wendeltreppe freigab. Der kühle, leicht muffige Lufthauch, der aus dem Geheimgang drang, strich über Zaras Miene und kühlte ihr heißes Gesicht. Verstaubte Spinnweben zwischen den Streben der Treppe wiesen daraufhin, dass Gregor diesen Weg nicht besonders oft wählte; Geheimnisse waren eben nicht immer auch praktisch.
Gregor vollführte eine einladende Geste. „Nach dir.“
Sie nickte und trat an ihm vorbei in den Geheimgang, der vom flackernden Schein des Feuers, das aus dem Speisesaal über die Schwelle fiel, in ein dämmriges Zwielicht getaucht wurde. Als Zara die ersten steinernen Stufen hinaufgestiegen war, ertönte erneut ein verhaltenes, leises Quietschen, und das Zwielicht verwandelte sich in tintige Schwärze. Schlagartig war es stockfinster.
Zara blieb stehen und drehte sich zur Geheimtür um; ihr selbst machte die Dunkelheit nichts aus, konnte sie doch selbst in finsterster Nacht sehen wie am helllichten Tage, aber ihr Begleiter musste in der Dunkelheit blind sein wie ein Maulwurf. „Gregor?“
Vor der Treppe flammte ratschend ein Streichholz auf, und Zara nahm den Geruch von Schwefel wahr. Gregor hielt das Zündholz in die Höhe und lächelte. „Ich bin hier“, sagte er ruhig. Der Schein der winzigen Flamme, die zwischen seinen Fingern tanzte, warf zuckende Schatten an die schartigen nackten Steinwände. „Keine Angst! Geh einfach weiter.“
Zara kam seinem Wunsch nach, und nach dreißig gewundenen Stufen, die sich einem Korkenzieher gleich in die Höhe schraubten, stand sie am oberen Ende der Wendeltreppe. Gregor trat neben sie, legte einen unscheinbaren Hebel neben einem helleren Rechteck im rissigen Grauschwarz des Mauerwerks um und schüttelte das Streichholz aus, bevor ihm die heruntergebrannte Flamme die Fingerkuppen versengen konnte.
Die Wand vor ihnen öffnete sich wie eine Tür. Dahinter befand sich ein Raum, der vom Schein eines kleinen Kaminfeuers sanft erhellt wurde. Links stand ein riesiges Himmelbett mit unzähligen Decken und Kissen; dahinter sah man jenseits der hohen Facettenfenster den verwaisten Garten des Anwesens und den angrenzenden nächtlichen Wald. Der Vollmond zeichnete sich als mattes silbriges Rund hinter der dichten Wolkendecke ab.
Gregor schob sie aus dem Geheimgang in sein Schlafgemach, und Zara stellte fest, dass die Geheimtür hier als großer goldverzierter Spiegel getarnt war. Sie schaute sich im Zimmer um: das große Himmelbett, eine Waschkommode gegenüber, eine kleine Sitzecke mit einer Chaiselongue, zwei edle stoffbezogene Sesseln und ein Tischchen aus dunklem Kirschholz, auf dem Boden dicke, flauschige Teppiche, die jeden ihrer Schritte verschluckten.
Unwillkürlich schritt Zara auf das breite Himmelbett zu, doch bevor sie es erreichte, war Gregor bei ihr, packte sanft ihren Arm, zog sie zu sich herum – und dann presste er seine heiße Lippen erneut auf ihren Mund.
Gemeinsam sanken sie auf das Bett...
XX.
Als Zara erwachte, streichelten die ersten blassen grauen Strahlen des neuen Tages ihr Gesicht. Sie brauchte einen Moment, um sich zu entsinnen, wo sie sich befand und wer der Mann war, der neben ihr leise vor sich hinschnarchte. Eins aber wusste sie sofort: Sie war zum ersten Mal seit Ewigkeiten nicht von Albträumen heimgesucht worden. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte sie einfach nur geschlafen. Doch sonderlich ausgeruht war sie deshalb nicht; im Gegenteil. Ihr Kopf drohte vor Kopfschmerzen zu zerspringen, sie hatte einen Geschmack im Mund, als hätte sie mit zu lange gegorenem Traubensaft gegurgelt, und als sie sich aufrichten wollte, war es, als schlüge ihr jemand mit einem Brett brutal gegen die Stirn. Stöhnend fasste Zara sich an den Kopf und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Die Decke über ihr schien sich träge zu drehen, ebenso wie ihr Magen. Ob es nun an dem Wein lag, den sie gestern Abend getrunken hatte, oder an dem Blut vom Nachmittag – sie hatte offenbar von irgendetwas mehr getrunken, als gut für sie war, und jetzt plagte sie ein Kater allererster Güte, der für einen Moment sogar den Gedanken daran verscheuchte, was es gewesen war, das sie so unvermittelt aus Morpheus’ Armen gerissen hatte. Dann flog ein weiterer Kiesel klackend gegen das Fenster, und Zara wurde klar, was sie geweckt hatte. Bemüht, Gregor nicht zu wecken, schob sie seine Hand vorsichtig von ihrem nackten Bauch, schlug die Decke zurück und glitt leise aus dem Bett, sorgsam bemüht, sich nicht zu abrupt zu bewegen, um weiteren Hieben mit dem Brett vor den Kopf vorzubeugen. Der dicke Teppich auf dem Boden verschluckte die Schritte ihrer bloßen Füße, als sie nackt zum Fenster huschte. Das Feuer im Kamin war erloschen, doch die Glut strahlte noch immer eine angenehme Wärme ab; offenbar hatte sie nicht besonders lang geschlafen. Aber immerhin hatte sie überhaupt eine Weile traumlos und in Ruhe geschlafen; das war eine Gnade, auf die sie nach Jahrhunderten kaum mehr zu hoffen gewagt hatte ...
Sie stieg über ihre auf dem Holzboden verstreuten Kleider hinweg und trat ans Fenster, vor dem die Morgensonne ein graues Rechteck auf das Parkett warf. Der Himmel jenseits des Fensters war grau, voll von dicken Wolken, und eine kalte Brise wirbelte vereinzelte Schneeflocken in tanzenden Wirbeln über den verschneiten hinteren Garten des Anwesens. Über den Bäumen des Waldes zeichnete sich die Morgensonne als heller Schemen hinter den Wolken ab, und als Zara nach dem Riegel griff und das Fenster öffnete, trug eine eisige Bö wirbelnde Schneeflocken ins Zimmer.
Unten vor dem Fenster des Schlafzimmers, zehn Meter tiefer, standen Falk und Ela auf dem verschneiten Rasen, und Falk hielt drei Pferde am Zaumzeug – Elas, sein eigenes und Kjell. Just als Zara das Fenster öffnete, warf Ela einen dritten Kiesel, den Zara mit einer raschen Handbewegung auffing, ehe sie sich halb hinausbeugte; erst jetzt, als die eisige Kälte mit unsichtbaren Fingern nach ihr griff, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nackt war, und sie verschränkte schnell die Arme vor ihren Brüsten. „Bei allen Göttern, was macht ihr hier?“, rief sie mit gedämpfter Stimme, um Gregor nicht zu wecken. Die Fragen, woher die beiden wussten, dass sie noch hier war, dass sie sich im Schlafzimmer des Landgrafen aufhielt und welches der unzähligen Zimmer des Herrenhauses das Schlafgemach war, verkniff sie sich. Sie nahm an, dass die Antworten auf die ersten beiden Fragen logische Schlussfolgerungen waren, Weil sie heute Nacht nicht in die Taverne zurückgekehrt war. Die Antwort auf die dritte Frage war wohl, dass Ela als Einheimische wahrscheinlich schon einmal hier zu Gast gewesen war. „Was ist geschehen? Hat die Bestie wieder zugeschlagen?“ Falk schüttelte atemlos den Kopf, und in seinem bleichen Gesicht schimmerten hektische rote Flecken. „Der Bürgermeister!“, stieß er aufgeregt hervor; im Gegensatz zu Zara gab er sich keine Mühe, leise zu sein. „Er ist verrückt geworden!“