Fluchend trieb sie Kjell die Absätze ihrer Stiefel in die Flanken, um ihn noch weiter anzutreiben. Aus den Augenwinkeln sah sie Bäume und Sträucher vorbeihuschen, eine vage Wand aus Grün und Braun. Äste und Zweige ragten auf den Pfad, und einmal ritten sie in vollem Galopp durch eine mannstiefe Bodensenke, über der ein moosbewachsener Baumstamm ruhte; Zara spürte, wie der Stamm ihre Haarspitzen kitzelte, so dicht war er ihrem Haupt. Dann preschte sie auf der gegenüberliegenden Seite der Senke den Hang hinauf, immer hinter den anderen beiden Reitern her, und der eisige Wind, der ihr entgegenschlug, ließ ihr Haar wild um ihren Kopf wehen.
Vor ihr drehte sich Ela in vollem Galopp halb zu ihr um. „Weiter!“, rief sie Zara über das Pochen der Hufe hinweg aufgeregt zu. „Wir sind gleich da!“
Zara nickte und kauerte sich auf dem Pferderücken noch mehr zusammen, um dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Ihr Umhang flatterte hinter ihr, während die Pferde in gestrecktem Galopp durch den dunklen Wald preschten. Die schweren, beschlagenen Hufe trommelten auf den gefrorenen Boden und hallten dumpf wie Donnergrollen von der Wand aus Bäumen wider. Sie schmiegte sich an Kjell und spürte das Spiel seiner Muskeln unter dem seidigen Fell. Dann teilte sich der Wald vor ihnen, und aus dem frühmorgendlichen Zwielicht schälte sich die markante Form des Teufelsfelsens: ein wuchtiger, annähernd dreieckiger Felsen aus grauem, beinahe schwarzem Schiefer, mit markanten Felsvorsprüngen, die an zwei aus der Stirn ragende Hörner erinnerten, und einer verkrüppelten Kiefer obendrauf.
Zara erkannte den Felsen wieder. Sie war gestern bereits hier gewesen; in der kleinen Felsnische hatte sie die Überreste des Wildschweins entdeckt. Ein feiner Nebelschleier waberte über dem Boden und quoll wie kleine Wolken über die Ränder des Teufelsfelsens in die Tiefe.
Jetzt sah sie Wanja.
Die junge Frau stand oben auf dem vielleicht sechs oder sieben Meter hoch aufragenden Teufelsfelsen; ihr weißes Kleid – nein, kein Kleid, korrigierte sich Zara, ein Nachthemd – flatterte in einer eisigen Brise, ebenso wie ihr langes braunes Haar, das ihr wirr um den Kopf wehte. Ihre Hände waren mit einem Seil, das um den borkigen Stamm des Baums geschlungen war, nach hinten gebunden. Ihre Füße waren nackt und verklebt mit Dreck und Tannennadeln, ebenso wie ihr Nachthemd, das aussah, als hätte man sie darin mit Gewalt durch den halben Wald hierher geschleift. Wanjas Gesicht war eine Miene des Unglaubens, als könne sie nicht fassen, dass all das wirklich geschah. Von ihrem Vater war nichts zu sehen; der Feigling hatte nicht einmal genug Mumm, bis zum bitteren Ende bei seiner Tochter zu bleiben.
Ganz anders Jahn. Er war in diesem Moment dabei, den Felsen zu erklimmen, um zu ihr hochzusteigen und sie zu befreien. Sein Pferd war nirgends zu sehen, und er war vollkommen außer Atem, als wäre er den gesamten Weg von Moorbruch hierher gerannt. Als die Reiter aus dem Dickicht des Waldes auftauchten, wandte er kurz den Kopf, dann galt seine ganze Aufmerksamkeit wieder seiner Geliebten, die oben auf dem Felsen stand und erfolglos versuchte, sich aus ihren Fesseln zu winden.
„Hilfe!“, rief Wanja, als sie die Reiter sah. „Helft mir!“
„Keine Sorge, Liebste!“, rief Jahn ihr keuchend zu. „Ich bin gleich bei dir! Nur noch einen Augenblick ...“
„O Gott, beeil dich!“, schrie Wanja. Dann ruckte ihr Kopf plötzlich zur Seite, als hätte sie hinter sich etwas gehört, und dann trat Panik in ihren Blick; nackte, von Entsetzen angefachte Panik. „Ich glaube, da ist etwas“, raunte sie mit leiser, gedämpfter Stimme. „O lieber Gott, ich glaube, hinter mir ist irgendwas ...“
Und dann, als hätte sie nur auf ihr Stichwort gewartet, tauchte plötzlich die Bestie hinter ihr auf dem Felsen auf; Zara vermochte nicht zu sagen, woher sie so plötzlich gekommen war. Die Pferde scheuten, und sie hatten auch allen Grund dazu, denn das, was sich ihren Blicken darbot, war so außergewöhnlich grotesk, dass es selbst Zara den Atem verschlug.
Die Bestie kam nach und nach in Sicht, als sie mit langsamen, majestätischen Schritten auf den Baum am Rand des Teufelsfelsens zuschritt, ein massiges, furchteinflößendes Ungetüm von der Größe eines ausgewachsenen Braunbären, mindestens ebenso schwer und mit dem wuchtigen Schädel eines Löwen, bloß ohne Fell. Das fiel Zara als Erstes ins Auge: dass die Kreatur kein Fell hatte. Der gesamte massige Körper war komplett haarlos, und die schartige, von wulstigen Narben und Geschwüren überwucherte Haut war von dem blassen Grau alter Asche. Die im Verhältnis zum Rest des massigen Körpers recht kurzen Beine endeten in mächtigen Pfoten mit langen, gebogenen Klauen. Die Vorderläufe der Kreatur waren länger als die hinteren Gliedmaße und schienen mehr Gelenke aufzuweisen, was der Bestie trotz ihrer Ähnlichkeit mit einem Bären etwas seltsam Affenartiges verlieh. Sie hatte zudem einen langen, peitschenden Schwanz, so nackt wie der Rest des unförmigen Körpers, und trotz seiner massigen Gestalt zeichneten sich unter der nackten grauen Haut die scharfen Umrisse der Schulterknochen, der Rippen und der Gelenke ab, fast so, als wäre die Bestie in Wahrheit nichts weiter als ein Skelett, über das jemand Haut gespannt hatte wie Zeltplane. Doch das Furchterregendste an der Kreatur war ohne Frage der Schädel; dieser riesige, wuchtige Schädel mit der langen, flachen Schnauze, die zu beiden Seiten von kurzen, schartigen gelben Stoßzähnen flankiert wurde. Die weit aus dem Kopf quellenden pupillenlosen Augen, die von Blutäderchen durchzogen waren, dass sie blutrot zu glühen schienen, wirkte abstoßend und abnorm. Jedes Mal, wenn sich der gewaltige knochige Brustkorb hob und senkte, drangen Atemwolken wie Rauch aus den Nüstern der Bestie, die bis zum Rand des Felsens vorkam, fast so, als wolle sie sich zur Schau stellen. Sie fletschte die in drei Reihen nebeneinander angeordneten Zähne, die scharf und spitz wie Dolche waren; fast war es, als würde das Ungetüm Zara und die anderen Reiter am Fuß des Felsens höhnisch angrinsen.
„Bei allen Göttern“, murmelte Falk fassungslos. „Was ist das?“
Niemand antwortete.
Oben auf dem Felsen stieß die Bestie ein abfälliges Schnauben aus, so als käme sie zu dem Schluss, dass ihr von den Reitern keine Gefahr drohte. Dann drehte sich die Bestie um und ging langsam auf den Baum mit der zitternden Wanja zu.
Als die junge Frau die Bestie auf sich zutrotten sah, begann sie zu schreien; sie schrie so hysterisch, dass es Zara in den Ohren schmerzte, doch die Bestie zeigte sich davon unbeeindruckt und trottete gemächlich weiter auf das gefesselte Mädchen zu, das so weit vor der Bestie zurückwich, wie es die Fesseln zuließen. Zwischen Wanda und dem Ungeheuer lagen vielleicht fünf oder sechs Schritte.
Jahn fand als Erster seine Stimme wieder. „Wanja!“, brüllte er, an der Seite des Felsens hängend. „Wanja, halte aus! Ich komme!“ Angetrieben von Wut und Angst um die Geliebte, kletterte er hastig die letzten zwei Meter hoch, ohne auf die spitzen Steine zu achten, die sich in seine Hände gruben, krallte die Finger oben an den Felsrand und schwang frei über dem sieben Meter tiefen Abgrund; einen Augenblick lang hing sein ganzes Gewicht an seinen Fingerspitzen, als Jahn seine Kräfte sammelte. Dann zog er sich mit einem gewaltigen Klimmzug in einer einzigen fließenden Bewegung nach oben auf das kleine Plateau, schwang ein Bein über den Rand, rappelte sich keuchend auf und packte einen armdicken Ast, der auf dem Boden gelegen hatte. Einen Moment lang wog er den Ast in der Hand wie einen Knüppel oder eine Keule; dann heftete sich sein vor Hass brennender Blick auf die Kreatur, die nun direkt vor Wanja stand und die gefesselte junge Frau mit ihrer grotesken Schnauze neugierig beschnüffelte, und er stürmte wütend vor, den Ast mit beiden Händen schwingend.
„Nimm das, du Teufel!“, brüllte Jahn, außer sich vor Wut, stürmte vor und schlug den Ast mit aller Kraft auf die Flanke der Bestie, die fast so groß war wie er selbst. Doch ebenso gut hätte er versuchen können, einen Olifanten mit einer Stecknadel zu verletzen; die Bestie ließ nicht einmal erkennen, dass sie den Hieb überhaupt gespürt hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz Wanja von der Wehr, die verzweifelt versuchte, vor der Bestie zurückzuweichen, doch die Fesseln hielten sie an Ort und Stelle, und alles, was sie tun konnte, war, darauf zu hoffen, dass ihr geliebter Jahn sie rettete, dass es ihm irgendwie gelang, sie vor dem schrecklichen Schicksal zu bewahren, zu dem ihr eigener Vater sie verdammt hatte ...