Zara ritt an der Statue von Ritter Arnulf von Begonien vorbei, einer der schillerndsten Persönlichkeiten in der Geschichte Ancarias, und stellte fest, dass Arnulf nicht nur bei den hiesigen Barden sehr beliebt war, die auch achthundert Jahre nach seinem mysteriösen Verschwinden in der Ödnis des Sandes noch Verse über seine Heldentaten anstimmten, sondern ebenso sehr bei den Tauben, die dick und fett gefressen auf der weiß beklecksten Statue saßen und schläfrig vor sich hin gurrten.
Sie führte Kjell in gemächlichem Trab durch die Straßen und Gassen der Unterstadt; die Hufe des Pferdes klackten rhythmisch auf dem Kopfsteinpflaster, während sie an Ladengeschäften vorbeikamen, in denen von Waffen und Rüstungen bis hin zu obskuren Heilkräutern, Liebestränken und orkischen Schrumpfköpfen so ziemlich alles feilgeboten wurde. Doch Zara hatte für die bunten Auslagen der Geschäfte keinen Blick; ihre Aufmerksamkeit galt den Menschen in den Gassen der Unterstadt – betrunken lallende Männern und kichernde Frauen. Hinzu kam die Musik, die aus der einen oder anderen Spelunke drang. Normalerweise hätte der Lärm Zara wahnsinnig gemacht, doch nun genoss sie den Trubel – noch ein Indiz dafür, dass sie einfach zu lange allein gewesen war.
Trotz der fortgeschrittenen Stunde herrschte in der Unterstadt noch immer buntes Treiben. Die Menschen bewegten sich lärmend durch die Straßen. Zara stieg der Duft gebrannter Mandeln und Maronen in die Nase, aber es roch auch nach feuchter Kleidung, altem Schweiß und faulem Gemüse; der Geruch ging teils von der Umgebung und teils von den Menschen selbst aus.
An einer Ecke stand ein Straßenmusikant, auf der Schulter ein Äffchen. Der Musikus spielte mehr schlecht als recht auf seiner Laute und gab mit schnapsschwangerer, lallender Stimme voller Inbrunst ein selbst gedichtetes Spottlied zum Besten: „Baron DeMordrey, welch ein Graus, zog in die weite Welt hinaus, sich zu verbünden aus guten Gründen mit König, Prinz und Laus. Als Feldmarschall von Königs Gnaden wollt er ein Stück vom Kuchen haben, den dieses reich gedeckte Land ‘nem anderen hat zuerkannt. So grämt er sich und bleibt allein und wartet auf das nächste Schwein, es zu binden und zu schinden und wenigstens nicht mehr spitz zu sein auf Varia von Heckenheim.“
Ein paar Umstehende lachten, und selbst Zara konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, auch wenn sie spürte, wie die Vergangenheit, seit sie wieder in Hohenmut war, von Minute zu Minute schwerer auf ihren Schultern lastete. Ihre Erinnerungen an Burg und Stadt Hohenmut waren nicht die besten, und es war ein sonderbares Gefühl, wieder durch diese Straßen zu reiten. Es erschien ihr auf seltsame Weise unwirklich, beinahe als würde sie dies alles nur träumen.
Als sie an einer dunklen, schwer einsehbaren Seitengasse vorbeiritt, schrie irgendwo eine Frau, und auf einmal zuckten Bilder durch Zaras Verstand – Bilder von lachenden jungen Männern und Frauen, von vollen purpurroten Lippen, von schimmernden elfenbeinfarbenen Zähnen und von Blut, das stoßweise auf das Pflaster pumpte, um dann in den Rinnstein zu laufen ...
Zara verdrängte die Erinnerungen, so gut sie es vermochte, und trabte weiter die Straße entlang. Zu beiden Seiten der schmalen Gasse reihten sich Tavernen und Gasthöfe aneinander, überbordend vor Leben, doch Zaras Ziel lag woanders, am Ende des Amüsierviertels, wo die Gaslaternen spärlicher wurden und die Schatten schwärzer. Zwischen den windschiefen, verwinkelten Häusern wurde der Lärm beständig leiser, als sie die belebten Straßen hinter sich ließ und durch einen steinernen Torbogen in einen kleinen Hof trabte. Der Eingang zu der Schenke, in die es Zara zog, lag hinter einem Freudenhaus, vor dem ein halbes Dutzend Dirnen auf Kundschaft warteten.
Unter einem Unterstand saß ein Freier in einem großen Waschzuber und ließ sich von einer barbusigen Dirne mit warmem Wasser begießen. Einige weitere Freudenmädchen beugten sich gelangweilt aus den Fenstern des ersten Stocks.
Keine der Dirnen sagte ein Wort, als Zara an ihnen vorbeiritt; genau wie vorhin die Schausteller schienen sie zu spüren, dass mit der Gestalt in dem weiten, wallenden Mantel und mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze etwas nicht stimmte. Etwas Dunkles, Bedrohliches schien von ihr auszugehen.
Vor der Schenke brachte Zara den Hengst zum Stehen, stieg ab und band die Zügel am Pferdepfosten fest, ehe sie auf die offene Holztür zutrat. Darüber verkündete ein an Ketten baumelndes Schild mit verblasster schnörkeliger Schrift: Ascarons Ruf.
Die Schenke befand sich am Fuße des Berges, auf dem sich Burg Hohenmut erhob – oder besser gesagt: sie befand sich im Berg, direkt im Felsen. Hinter der Holztür führten in den Stein gehauene Stufen steil in die Tiefe. Flackerndes Licht vom Ende der Treppe wies Zara den Weg.
Im Schankraum standen mindestens ein Dutzend Holztische, trotzdem tummelten sich die meisten Zecher an der Theke. Zara war das nur recht. Sie blieb einen Moment stehen, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Die Wände bestanden aus roh behauenem Fels, auf dem die Nässe schimmerte. Rußende Fackeln steckten in eisernen Halterungen. Die niedrige Decke wurde von dicken Balken gestützt. Der steinerne Boden war uneben.
Zara ging zu einem kleinen Ecktisch, der in einer Nische stand. Von dort hatte sie einen guten Blick über den gesamten Schankraum und war dennoch für sich. Neben dem Tisch stand ein Kohlebecken, das rötliche Wärme ausstrahlte. Es roch durchdringend nach Moder, Rauch, verschüttetem Met und geschmortem Fleisch, denn drüben bei der Theke drehte eine Magd gelangweilt ein Glorb über dem Feuer. Der dickbäuchige Wirt hinterm Tresen stach mit Hammer und Zapfhahn gerade ein neues Fass Met an, um den Durst seiner Kundschaft zu stillen, die größtenteils aus Zechbrüdern, Draufgängern, Abenteurern, Spielern und anderem lichtscheuen Gesindel bestand. Zara war schon in wesentlich schlimmere Spelunken eingekehrt; tatsächlich fand sie es in dieser Schenke sogar gemütlich.
Sie hatte kaum auf dem wackeligen Holzstuhl Platz genommen, als vor ihr bereits die Schankmagd auftauchte, eine schlanke junge Frau in Rock und Schürze, der das dunkelblonde Haar in langen, welligen Locken über die Schultern fiel; ein Hauch von Flieder stieg Zara in die Nase, süß und auf unbestimmte Weise anregend. „Guten Abend, der Herr“, grüßte die Magd und lächelte freundlich. „Schön, dass Ihr uns die Ehre gebt! Wenn es Euch nach einem Mahl verlangt, kann ich Euch den Spanglorb empfehlen, serviert mit Kartoffelknödeln und Brot, und dazu ein Maß Honigmet ...“
Während die Magd sprach, streifte Zara beiläufig die Kapuze vom Kopf.
Die Schankmagd erschrak. „Oh, bitte verzeiht, Madam“, begann sie hastig. „Ich dachte, ihr wärt ...“
„... ein Mann?“, fragte Zara.
Die Schankmagd nickte ängstlich, fast furchtsam. Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass Frauen hierher kamen, um Geld auszugeben – höchstens, um sich bei den abgehalfterten Zechern etwas zu verdienen.
Dann fiel ihr Blicke auf die beiden Schwertgriffe, die unter dem Mantel der seltsamen Frau hervorschauten. Je ein Schwert trug sie links und rechts in den Lederscheiden der Waffengurte, die sie um die Hüfte geschnallt hatte. Die Magd trat erschrocken einen Schritt zurück.
„Nun, ein Mann bin ich nicht“, sagte Zara ruhig, „aber ich habe Durst wie einer! Bring mir einen Krug Met und etwas zu rauchen, wenn Ihr habt.“ Sie griff in die Tasche und schnippte der Magd eine Münze zu, die diese geschickt auffing.