„Was ... was ist das?“
„Gesellschaft“, knurrte Zara düster, während das Knurren immer näher kam, lauter wurde und sich dann aufzuteilen schien, um unversehens von überall und nirgends zu kommen: von links, von rechts, von vorn, von hinten. „Schnell!“, rief Zara, und Panik schwang in ihrer Stimme. „Ela und Jahn müssen da unten weg!“
Sie riefen nach der jungen Frau und stiegen den Felsen wieder hinunter, während sich das aggressive Knurren weiter näherte. Dann schafften sie Ela und den verletzten Jahn, der sich selbst kaum auf den Beinen halten konnte, über den Hang auf den Teufelsfelsen.
Als sie oben auf dem Plateau anlangten, brach Jahn endgültig zusammen und versank in einer gnädigen Ohnmacht, sodass er die blutüberströmte, zerrissene Leiche seiner geliebten Wanja nicht sehen musste. Zara war dankbar dafür.
Das Knurren war jetzt überall. Als Zara an den Rand des Felsens trat, konnte sie im ersten Moment nichts erkennen als dunkles, unheildräuendes Dickicht, doch dann begannen die Pferde unten vor dem Teufelsfelsen mit einem Mal zu scheuen und rissen an den Riemen, mit denen sie an die Äste einer Kiefer gebunden waren. Kjell trabte unruhig hin und her, und sein ängstliches Schnauben vermischte sich mit dem wütenden Knurren und dem leisen Knacken und Rascheln, als sich nicht weit von den Tieren langsam ein gewaltiger, monströser Schatten aus dem Dickicht löste und gemächlich auf die freie Fläche vor dem Teufelsfelsen trat, umweht von Schneeflocken, die auf die fahle, nackte Narbenhaut trafen und dort zu glitzernder Nässe schmolzen.
„O nein“, raunte Falk entgeistert, der wieder neben Zara getreten war. „Es ist nicht nur eine Bestie; es sind zwei!“
„Nicht zwei“, widersprach Zara. „Mehr.“
Sie hatte Recht. Während die erste Bestie beinahe demonstrativ am Fuß des Felsens in Stellung ging, sodass die Gefährten jede scheußliche Einzelheit genau wahrnehmen konnten, lösten sich auch in den anderen Himmelsrichtungen massige, monströse Schatten aus dem Dickicht und näherten sich langsam und lauernd dem Teufelsfelsen wie einem Beutetier. Die kamen von allen Seiten aus dem Wald, gut ein halbes Dutzend Blutbestien, die sich ohne Hast rings um den Teufelsfelsen in Stellung brachten und sie umzingelten.
„Bei allen Göttern ...“, raunte Falk ängstlich, und die Furcht ließ seine Stimme zittern. „Es gibt ein ganzes Rudel von diesen Biestern ...“
Zara schwieg. Ihr Blick glitt von einer Bestie zur anderen, die jetzt nicht mehr knurrten, sondern still und reglos wie Statuen aus Fleisch und Blut dastanden, und die gleiche Furcht, die Falk verzagen ließ, griff auch nach ihrem eigenen untoten Herzen. Ein ganzes Rudel dieser verdammten Biester hatten den Felsen umzingelt und standen einfach nur da, reglos, lauernd, ein Ungeheuer dem anderen so ähnlich wie Zwillingsbrüder, ein tödlicher Ring aus Klauen und schnappenden Kiefern, der sich um den Teufelsfelsen zugezogen hatte wie eine Schlinge um den Hals eines Gehängten.
Sie saßen in der Falle!
Zara sah hinüber zu den Pferden und stöhnte. Sie war keine sentimentale Natur, aber zusehen zu müssen, wie ihr treuer Gefährte Kjell von diesen Biestern in Stücke gerissen wurde, war etwas, worauf sie gern verzichtet hätte; wenigstens darauf ...
Wie sich zeigte, brauchte sie sich deswegen keine Sorgen zu machen, denn die Bestien zeigten nicht das geringste Interesse an den nervösen Pferden, die unruhig auf der Stelle scharrten und soweit zurückwichen, wie es ihre Leinen zuließen. Die Kreaturen hatten nur Augen für die Menschen oben auf dem Felsen, fast so, als wüssten sie, dass ihnen von den Pferden keinerlei Gefahr drohte. Und vermutlich wussten sie das tatsächlich, denn dass die Biester den Felsen von allen Seiten umzingelt und ihnen so jeden Fluchtweg abgeschnitten hatten, zeugte von einer Intelligenz, die Zara auch von anderen wilden Tieren kannte.
Denn das waren sie: nur Tiere. Keine Monstren. Sie hatten nichts Übernatürliches an sich. Sie waren stark und widerstandsfähig, aber wenn man sie schnitt, dann bluteten sie, und wenn man ihnen das Hirn durchbohrte, dann starben sie, so wie jedes andere Lebewesen auch. Doch es waren einfach zu viele; schon eins dieser Biester zu bezwingen, hatte Zara alles abverlangt. Aber gegen ein halbes Dutzend ...
Diesen Kampf konnte sie unmöglich gewinnen, selbst wenn ihre Verletzungen ihr nicht zu schaffen gemacht hätten.
Offenbar ahnte Falk, was sie dachte, denn er packte sie am Arm und fragte mit zitternder Stimme und flehendem Blick, als wünschte er sich, Zara würde dem widersprechen, als für ihn selbst längst Gewissheit war: „Das war’s dann wohl, hm?“
Zara schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?
Was sind schon Worte im Angesicht des Todes?
Das verbliebene Schwert in der unverletzten Hand, starrte sie vom Rand des Plateaus auf die Bestien hinab, die reglos um den Fels herumstanden. Dann setzten sie sich wie auf ein für Zara unhörbares Signal hin in Bewegung, um den Kreis um den Felsen mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen noch enger zusammenzuziehen, während sich die hinteren Tiere gleichzeitig dem Hang näherten, der hoch auf das Plateau führte. Und die ganze Zeit über gab keine der Kreaturen einen Laut von sich; alles geschah in vollkommener Stille, die noch viel furchteinflößender war, als Knurren jemals hätte sein können. Selbst der Wind in den Bäumen schien den Atem anzuhalten.
Zara verfolgte, wie die Bestien immer näher kamen, Schritt für Schritte, ohne Hast, mit lauernder Vorsicht. Sie hatte dem Tod schon häufig in sein knöchernes Antlitz geblickt, und immer war es ihr irgendwie gelungen, ihm doch noch von der Schippe zu springen. Doch beim Anblick der Bestien, die sich von allen Seiten an sie heranpirschten, konnte sie nicht umhin, Falks lakonischem Kommentar zuzustimmen.
Das war ‘s dann wohl...
Doch sie wollte nicht kampflos untergehen! Sie klaubte ihr Messer vom Boden auf, das sie der toten Bestie vorhin in die Schnauze gerammt hatte, und hielt es Falk hin. Er starrte die blutige Klinge einen Augenblick lang verwirrt an, als wüsste er nicht recht, worum es sich handelte oder was er damit anfangen sollte, dann schüttelte er nur den Kopf, zog sein eigenes, kleineres Messer aus der Schneide an seinem Gürtel, und irgendwie gelang es ihm, ein trauriges Lächeln zu Stande zu bringen, in dem sich die Todesangst und die Gewissheit, dass es kein Entrinnen gab, die Waage hielten. „Danke“, sagte er, „aber ich bin versorgt.“
Zara nickte und schob das Messer in die Schneide in ihrem Stiefel zurück, ehe sie wieder hinunter zu den Bestien schaute – und erschrocken den Kopf zurückzog, als eine der Kreaturen unvermittelt vorpreschte und mit einem gewaltigen Sprung die Felswand zu erklimmen versuchte. Die Bestie schoss am Felsen hinauf, schlug mit ihren Klauen fauchend nach Zara und versuchte sich an der Felswand festzukrallen. Doch der Fels war zu steil und zu glatt, und mit einem wütenden Grollen fiel die Bestie auf den Boden zurück, um es gleich noch einmal zu versuchen.
Zara wich zurück und schob Falk mit der freien Hand von der Kante weg.
Hinter ihnen erscholl bei dem schmalen, gewundenen Weg, der hinauf auf den Felsen führte, bereits ein tiefes, wütendes Knurren, in das sich ein zweites, nicht minder wütendes Grollen mischte, und Zara wusste, dass ihnen der Fluchtweg abgeschnitten war. Sie allein würde den Sprung die Felswand hinunter sicherlich schaffen, und wenn es ihr gelang, sich zu Kjell durchzuschlagen, hatte sie vielleicht sogar eine Chance, zu entkommen. Aber sie konnte die anderen nicht allein lassen!
Sie stellte sich vor Falk und Ela und starrte den beiden Bestien, die nebeneinander den Weg hinaufkamen, grimmig entgegen, den Schwertgriff fest umklammert. Die Wunden, die ihr das erste Biest beigebracht hatten, schmerzten höllisch, aber Zara achtete nicht darauf. Ihr Blick war auf die beiden Bestien gerichtet, die langsam, bedächtig, näher kamen, gefolgt von einem dritten Ungetüm, das die Schnauze in die Luft hielt und hörbar schnupperte, als könne es die Angst auf dem Plateau wittern. Falk hinter ihr hielt sein Messer zitternd vor sich und Ela, die sich ängstlich an ihn klammerte und leise betete. Jahn lag noch immer bewusstlos am Boden hinter ihnen.