So schwer es ihr auch fiel, das zuzugeben: Sie konnte Jaels Hilfe gut gebrauchen. Und in dem Maße, wie diese Erkenntnis sich in ihr festsetzte, beruhigte sie sich allmählich. Sie zwang sich, ihre Gefühle in den Griff zu kriegen, und ließ ihre Schwerter sinken, und es schien, als würde sich auch Jael unmerklich entspannen. „Also“, sagte Zara, nachdem sie ihre Schwerter über Kreuz in die Scheiden über ihrem Rücken zurückgeschoben hatte. „Was machst du hier?“
„Ich sagte es schon“, erwiderte Jael. „Ich bin hier, um dem Morden ein Ende zu machen.“ Sie schob ihr Schwert ebenfalls in die Scheide zurück, langsam und bedächtig. „Der König schickt mich“, erklärte sie. „Vor einigen Tagen erreichte die Kunde sein Ohr, dass in den Wäldern von Moorbruch eine Bestie ihr Unwesen treibe, der schon viele zum Opfer gefallen seien, eine unheimliche Bestie, der mit gewöhnlichen Mitteln nicht beizukommen wäre, und so sandte er mich her, um den Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Und hier bin ich.“ Sie lächelte. „Gerade zur rechten Zeit, wie mir scheint.“
Zara schwieg.
Hinter ihr kamen Falk und Ela neugierig näher. Der junge Mann starrte Jael fasziniert an; er hielt noch immer sein Messer in den Händen, doch Jael hatte nicht einmal einen Blick dafür. Er starrte sie an wie ein Gemälde im Museum – ihre vollen roten Lippen, den blassen Teint –, und angesichts ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie gerade hinreichend unter Beweis gestellt hatte, konnte er bloß zu einem Schluss kommen. „Und seid Ihr auch ...“ Er suchte nach den richtigen Worten, da er ihr nicht zu nahe treten wollte, doch Jael schien zu wissen, was er hatte fragen wollen, und schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin kein Kind der Nacht“, sagte sie lächelnd, nicht im Mindesten pikiert. „Man könnte eher sagen, ich gehöre dem anderen Verein an.“
„Dem anderen ...“ Falk stockte, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Er konnte es nicht glauben. „Heißt das, Ihr ... Ihr ... Ihr seid eine ...“ Bereits die Vorstellung war so ungeheuerlich, dass Falk sie nicht über die Lippen brachte.
Doch Jael nickte. „Eine Seraphim, genau.“
„Unglaublich. Eine Hüterin des Lichts ...“ Er konnte bloß fassungslos den Kopf schütteln.
Zara räusperte sich und sagte: „So ungern ich euch auch unterbreche – selbst wenn die Bestie verletzt ist, kann sie uns noch immer entkommen, und wenn sich in den Wäldern wirklich noch weitere dieser Kreaturen herumtreiben ...“
Jael nickte. „Wir sollten keine Zeit verlieren. Am besten gehen wir zu Fuß“, schlug sie vor. „Die Hufgeräusche könnten die verletzte Bestie warnen – oder andere auf uns aufmerksam machen. Außerdem“, fügte sie hinzu, „ist es leicht, Spuren zu übersehen, wenn man auf einem Pferderücken sitzt.“
Zara brummte zustimmend und strich sich ein paar verirrte, schmutzstarrende Haarsträhnen aus der Stirn. „Auf geht’s.“
„Und was machen wir?“, wollte Falk wissen.
„Ihr bringt Jahn zurück nach Moorbruch“, sagte Zara und bedachte den noch immer bewusstlosen jungen Mann mit einem besorgten Blick. „Er muss dringend behandelt werden.“ Sie sah Ela fragend an. „Gibt es in Moorbruch einen Heiler?“
Die junge Frau nickte ängstlich. „Manoly. Er wohnt in der Nähe der Kirche. Ich kenne den Weg.“
„Dann los“, sagte Zara entschlossen. „Und nehmt die Pferde mit!“
XXIII.
Es war nicht schwer, der Spur der Bestie zu folgen; der Geruch der Kreatur zog sich durch das Dickicht, und dann waren da auch noch die Blutspritzer im Schnee. Doch Zara hätte weder das eine noch das andere gebraucht, um den Weg zu finden. Sie wusste längst, wohin das Biest wollte. Sie kannte diesen Weg; es war keinen Tag her, seit sie ihn das letzte Mal gegangen war.
Unterwegs sprach keine der beiden Frauen ein Wort; zudem vermied Zara es, Jael anzuschauen, auch wenn sie den Blick der anderen regelmäßig auf sich lasten spürte. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Jael hier war, nach all den Jahren, in denen Zara versucht hatte, Jael und alles, wofür sie stand, zu vergessen, doch die Vergangenheit holte sie immer wieder ein.
„Nichts, was begraben liegt, ist wirklich tot“, hatte mal irgendjemand zu ihr gesagt, und anscheinend war das die Wahrheit; war sie selbst nicht der beste Beweis dafür?
Dann tauchte aus dem Dickicht zwischen ihnen die Ruine des Anwesens derer von Humbug auf, und Zara verdrängte ihre Grübeleien.
Zara blieb vor den verrußten Überresten des Herrenhauses stehen, die sich in den grauen Himmel erhoben, und ließ den Blick über die kleine Lichtung schweifen. Von der Bestie selbst war nichts zu sehen, doch ihr Geruch war nach wie vor stark.
Sie sah hinüber zu der Bärenfalle, die zusammengeschnappt und ungefährlich im Laub bei der schwarzen Hauswand lag; dann ging sie, ohne auf Jael zu warten oder sich auch nur zu vergewissern, dass sie noch hinter ihr war, zum Haupteingang der Ruine, vorbei an der rostigen Kinderschaukel, die leicht im Wind schwang. Die Trostlosigkeit und Traurigkeit dieses Ortes drückte ihr aufs Gemüt. Beiläufig fragte sie sich, was in jener Nacht geschehen sein mochte, als die Einwohner von Moorbruch den Feuerschein über den Wipfeln der Bäume leuchten sahen, doch dann zwang sie sich, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Das Hier und Jetzt war von Bedeutung, nicht, was sich vor über einem Jahrzehnt an diesem Ort zugetragen hatte.
Der linke Flügel der wuchtigen Eingangstür war verschwunden, von dem rechten hingen noch schwarz verkohlte Fragmente im Türrahmen. Zara schob sich daran vorbei über die Schwelle und stand in dem, was früher einmal die Eingangshalle gewesen war. Hier und da lugte ein kunstvolles schwarzweißes Fliesenmuster unter all dem Laub, dem Dreck und den Trümmern hervor. Die verkohlten Überreste von Möbeln lagen kreuz und quer im Raum verteilt. Rechts führte eine breite, gewundene Treppe nach oben, nur um in Höhe des ersten Stocks abrupt abzubrechen, wo das Mauerwerk komplett eingestürzt war. Auch die Decke existierte nicht mehr. Doch die von den Flammen geschwärzten Mauerreste und die schwarzen Balken über ihren Köpfen vermittelten noch einen recht guten Eindruck davon, wie das Haus einst von innen ausgesehen hatte.
Zara hielt die Augen offen und entdeckte Blutspuren auf dem Boden, winzige rote Spritzer. Sie führten durch die Eingangshalle in den hinteren Teil des Hauses. Behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, folgte Zara der Spur der Bestie durch die Ruine, jederzeit bereit, ihre Schwerter zu ziehen, falls sie angegriffen wurde, schließlich mochte allein der Himmel wissen, wie viele dieser mörderischen Bestien sich noch in den Wäldern von Moorbruch tummelten ...
Obwohl der Boden mit Laub und Schutt bedeckt war, bewegten sich die beiden Frauen nahezu lautlos durch die Ruine. Rechts von ihnen zweigte ein kurzer Gang ab, der vermutlich einst in den Speisesaal geführt hatte; die Wände waren auf Brusthöhe eingebrochen, und hier und da schimmerten durch den alles überdeckenden Ruß die verschimmelten Überreste einer Blumentapete. Der eisige Wind strich durch die Balken und Erker der Ruine und sang sein leises, wimmerndes Klagelied. Längst hatte die Natur begonnen, sich das, was man ihr genommen hatte, wieder zurückzuholen, und so wurzelten Büsche und Sträucher in der nährstoffreichen Asche, indes sich Efeuranken an den verkohlten Balken in die Höhe wanden und Moos und Schimmel die durch die Hitze des Feuers zersplitterten Backsteine unter einer flauschigen grünen Schicht verbargen, wo immer sie konnten. In drei oder vier Jahren war die Ruine wahrscheinlich vollkommen zugewuchert – nicht, dass das ein großer Verlust für die Zivilisation gewesen wäre ...
Zara ging vorsichtig weiter. Ihre Anspannung wuchs mit jedem Schritt. Links an der Wand zeichnete sich ein verschmierter blutiger Abdruck ab, als wäre die Bestie hier am Mauerwerk entlanggeschliffen, und ein paar Meter weiter setzte sich die Spur aus Blutstropfen fort. Die Tropfen wurden zunehmend größer und die Abstände zwischen ihnen kleiner. Die beiden Kriegerinnen folgten der Blutspur um die Ecke einer vergleichsweise intakten Zwischenwand und standen in dem, was einst die Küche des Hauses gewesen war: ein großer, quadratischer Raum mit einem gemauerten Ofen in der Mitte, in dem Vögel ihr Nest errichtet hatten. An einer Wand hingen Halterungen für Töpfe und Pfannen, und an der Wand gegenüber der nicht mehr vorhandenen Tür sahen sie rußige Fragmente des Spülbeckens, das sich dort früher befunden hatte. Obwohl die Mauern gleich oberhalb des Erdgeschosses in schartigen Trümmern endeten, waren die Fenster noch teilweise erhalten, die Rahmen schwarz angekokelt, die Scheiben – die, die nicht unter der Hitze geplatzt waren – gesprungen und blind von Dreck und Ruß. In der Ecke neben der schief in den Angeln hängenden Tür zur Speisekammer lag das Skelett eines Ebers oder Wildschweins, durch dessen gähnende Augenhöhle sich die jungen Triebe einer kleinen Esche ihren Weg gesucht hatten, und dahinter bedeckten Efeu, Schlingpflanzen und Schlingmoos einen Großteil der Mauer wie ein natürlicher Gobelin.