„Monster“, sagte Jael.
Zara schüttelte den Kopf. „Marionetten.“
Irgendwo in der stinkenden Dunkelheit jenseits der Verschlage erklang ein leises pfeifendes Grollen.
Zaras Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie in die Richtung starrte, aus der das Geräusch kam, doch die Verschlage versperrten ihr die Sicht auf das, was dahinter lag. Zara und Jael lösten sich aus dem Schatten des Käfigs und schlichen zwischen den Verschlagen auf das Geräusch zu, das sich in ein gequältes Keuchen verwandelte.
Als sie die Verschlage umrundeten und weiter in den hinteren Teil des Kellers vordrangen, entdeckten sie die Bestie, die in einer Ecke des Kellers ausgestreckt auf einem Stoß Stroh lag, das sich zunehmend dunkel färbte. Aus mehreren tiefen Wunden floss das Leben aus der Kreatur heraus. Als die Bestie die beiden Frauen auf sich zukommen sah, versuchte sie, vor ihnen wegzukriechen, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Die knochige Brust hob und senkte sich unregelmäßig, und der pfeifende Atem, der aus den Nüstern drang, wurde von blutigem Schaum begleitet. Die Bestie schaffte es kaum noch, Zara und Jael mit dem Blick ihrer großen rotgeäderten Augen zu folgen, als sie langsam näher kamen, so schwach war sie.
Zara blieb neben der Bestie stehen und sah auf sie hinunter.
Dieses Wesen tat niemandem mehr etwas. Es hatte sich schwer verletzt hierher zurückgezogen, in die einzige vertraute Umgebung, die es kannte, um hier zu sterben. Zara fand, dass das ein Wunsch war, den man respektieren musste. Ohne sich um Jaels warnende Worte zu scheren, ging Zara langsam neben der Kreatur in die Knie, die sie mit ihren rotgeäderten Augen fixierte. Als Zara langsam die Hand nach ihrem wuchtigen Schädel ausstreckte, hob die Bestie mit einer ungeheuren Kraftanstrengung ihren Kopf vom Stroh, doch ihre Kiefer schnappten kraftlos ins Leere, und dann sank die Bestie auf ihr Lager zurück und stieß ein lang gezogenes Winseln aus.
Die Bestie lag im Sterben.
Und sie litt Schmerzen.
„Ruhig“, sagte Zara mit sanfter Stimme und streckte erneut die Hand nach dem Kopf der Bestie aus. „Nur ruhig ...“
Diesmal lag die Bestie ganz still, entweder, weil sie zu schwach war, oder weil sie begriffen hatte, dass Zara ihr nichts tun würde. Sie blinzelte, als Zara ihr die flache Hand auf die Schnauze legte und sanft über die ledrige, warme Haut strich. Die Kreatur stieß wieder dieses gequälte Winseln aus und drückte sich dann kraftlos gegen Zaras Hand, wie um ihre Berührung in diesen dunklen Momenten noch intensiver zu spüren. Längst war aller Hass aus den Augen des Wesens verschwunden; alles, was Zara nun darin sah, war Angst und der Wunsch nach Erlösung.
Zara streichelte mit der linken Hand die nackte Schnauze der sterbenden Kreatur, während sie mit der anderen langsam ihr Messer zog. Sie redete beruhigend auf die Bestie ein und richtete die Spitze der Klinge auf die mächtige Brust des Wesens. Die Kreatur winselte wieder, und Zaras Finger schlossen sich so fest um den Griff des Messers, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Finde Frieden“, murmelte sie.
Dann stieß sie der Bestie die Klinge bis zum Heft in die Brust, da, wo das Herz unter der aschgrauen Haut schlug, während sie dem Biest mit der anderen, freien Hand sanft über die blutige Schnauze strich. Die Kreatur bäumte sich einen Augenblick lang auf und sank dann kraftlos auf das Strohpolster zurück. Die ewige Nacht legte sich über ihre Augen, der haarlose Schwanz zuckte noch ein paar Mal, dann lag die Bestie reglos.
Es dauerte einen Moment, bis sich Zara wieder soweit gefangen hatte, dass sie imstande war, das Messer aus der Brust der toten Bestie zu ziehen.
„Du hast dich sehr verändert“, sagte Jael, als die Vampirin langsam aufstand, das Messer an ihrem Umhang abwischte und es wortlos zurück in die Scheide an ihrem Gürtel steckte, ohne Triumph, ohne Befriedigung.
Zara schaute sie mit versteinerter Miene an, erwiderte aber nichts. Stattdessen wandte sie mit einem Ruck das Gesicht ab, damit die andere Frau das verräterische feuchte Funkeln in ihren Augen nicht sah, und tat so, als würde sie sich in dem düsteren Kellergewölbe umschauen. Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war, warum ihr der Tod der Bestie so naheging. Vielleicht lag es daran, dass sie sich in gewisser Weise ähnelten, dass sie beide gegen ihren Willen zu etwas gemacht worden waren, was sie nie sein wollten.
Mörder. Bestien ...
Zara zwang sich, nicht weiter daran zu denken, und bemühte sich, ihrer Stimme einen harten, entschlossenen Klang zu geben, als sie sagte: „Wir sind noch nicht mit dieser Sache fertig.“
„Nein“, stimmte Jael zu. „Noch nicht. Aber wie geht’s jetzt weiter?“ Sie sah sich ein wenig verloren in dem riesigen Kellergewölbe um. „Ich meine, die Bestien sind tot, und wir haben weder die geringste Ahnung, wer hinter all dem steckt, noch wie wir ihm auf die Spur kommen sollen.“
„Das würde ich so nicht sagen“, erwiderte Zara kryptisch.
Jael wollte gerade nachfragen, was sie damit meinte, als sie ein leises, lang gezogenes Ratschen hörte, und dann blinzelte sie in der plötzlichen Helligkeit der kleinen rotgoldenen Flamme, die zwischen Zaras Fingern zu einer unhörbaren Melodie tanzte und unförmige, monströse Schatten an die schartigen Wände des Kellergewölbes warf. Zuerst wusste sie nicht recht, was sie davon halten sollte, doch dann hielt Zara das Streichholz in die Höhe und fing an, sich langsam im Kreis um die eigene Achse zu drehen, und als die kleine Flamme unruhig in einem steten Luftzug zu flattern begann, wurde Jael klar, dass ihr Pessimismus vielleicht ein wenig voreilig gewesen war.
Der flackernde Schein der Streichholzflamme umschmeichelte Zaras bleiche, von Blut, Schmutz und Trauer gezeichnete Züge. „Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, rezitierte sie mit ungewohnt weicher Stimme. „Das hat meine Großmutter immer gesagt, als ich noch klein war.“
Jael lächelte. „Eine weise Frau, deine Großmama.“
„Tot und begraben“, murmelte Zara, unvermittelt wieder ernst, und richtete die kleine Flamme an dem schwachen, kaum spürbaren Luftzug aus, der durch das Kellergewölbe strich. Dann setzte sie sich in Bewegung und ging in die Richtung, aus der der Luftzug kam; dabei vermied sie es, sich noch einmal nach der toten Bestie umzudrehen.
Jael folgte ihr neugierig, als Zara mit der winzigen Flamme zwischen den Fingern durch das düstere Kellergewölbe ging, geradewegs auf den Luftzug zu, der mit jedem Schritt stärker wurde und schließlich deutlich spürbar über die warme Haut der Seraphim strich, ein eisiger, nach feuchter Erde und Dunkelheit riechender Hauch, wie ein Odem aus einem frisch geöffneten Grab.
„Na, was haben wir denn da ...“, murmelte Zara schließlich, als sie die hinterste südliche Ecke des Kellers erreichten.
Hinter einem Stapel leerer alter Weinfässer führte ein schmaler Tunnel in die Erde, fort vom Versteck der Blutbestien. Der Schein der Streichholzflamme verlor sich bereits nach wenigen Metern in der tintigen Schwärze des Tunnels. Zara schüttelte das Streichholz aus, als die Flamme ihr die Finger zu versengen drohte, und die Finsternis wurde wieder allumfassend.
„Wohin mag der Tunnel führen?“, fragte Jael neben ihr.
Zara schnalzte mit der Zunge. „Keine Ahnung.“ Sie warf das abgebrannten Streichholz achtlos weg und trat entschlossen in den dunklen Tunnel. „Ich schätze, es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden ...“
XXIV.
Der Tunnel erwies sich als bedeutend länger, als eine der beiden Frauen für möglich gehalten hatte. Nach den ersten hundert Metern war Jael sicher, dass sie das Ende jeden Moment erreichen mussten, nach vierhundert Metern hoffte Jael, dass es bald soweit sein würde, und nach siebenhundert Metern fand sie sich schließlich damit ab, dass dies unter Umständen ein sehr langer Spaziergang werden würde. Zara hingegen hielt sich gar nicht erst mit irgendwelchen Mutmaßungen auf; sie nahm die Dinge so, wie sie kamen, und marschierte mit entschlossenen, weit ausholenden Schritten durch den kaum einen Meter breiten Tunnel, der in einer schnurgeraden Linie von den Ruinen des Herrenhauses aus nach Süden führte, vom Teufelsfelsen weg, in Richtung Moorbruch.