Waren die ersten paar Hundert Meter noch mit roten Backsteinen gemauert, machte das Mauerwerk nach ungefähr einem halben Kilometer Fels und schwarzer Erde Platz. Die Decke wurde von Holzbalken gestützt, in denen Generationen von Weberspinnen ihre Netze gesponnen hatten. Tropfendes Wasser begleitete die Schritte der beiden Frauen, und hier und da ragte Wurzelwerk aus den Wänden oder der Tunneldecke, knotige Strünken, die wie Hände nach ihnen griffen, fast so, als wollten sie die beiden Kriegerinnen daran hindern, weiter in den Tunnel vorzudringen.
Der Tunnel beschrieb nach ungefähr zwei Kilometern eine Rechtskurve, um danach in nordöstlicher Richtung zu verlaufen. Noch immer war kein Ende in Sicht. Anfangs versuchte Zara noch, die Entfernung, die sie zurückgelegt hatten, anhand ihres Schrittmaßes zu schätzen, doch irgendwann gab sie es auf.
Weiter, immer weiter durch den finsteren Tunnel ...
Hin und wieder nahmen Ratten oder Mäuse vor ihnen Reißaus, aufgescheucht von ihren Schritten, und einmal huschte vor ihnen ein Tausendfüßler von der Länge eines Unterarms über den Weg. Aber abgesehen davon waren sie allein mit sich und dem Geräusch ihrer Schritte auf dem unebenen Boden.
Irgendwann glaubte Zara, weiter vorn einen helleren Fleck auszumachen, einen dunklen Schatten innerhalb tiefschwarzer Schatten. Zunächst hielt sie es für eine Einbildung, doch als der Fleck nach ein paar Dutzend Schritten nicht verschwand, sondern heller wurde, ein matter grauer Schemen in der allumfassenden Schwärze des Tunnels, gab sie sich der vagen Hoffnung hin, dass dort hinten in der Ferne irgendwo der Ausgang war.
Von neuer Energie erfüllt, schritt sie schneller aus, die Augen unbeirrt auf den vagen grauen Fleck in der Ferne gerichtet, der allmählich heller und größer wurde, bis Zara schließlich überzeugt war, dass es dort vorn Licht gab; ob Sonnenlicht oder das einer Laterne, vermochte sie nicht zu sagen.
Zara war vielleicht ein Kind der Nacht, doch die Düsternis und Enge des Tunnels schlugen ihr allmählich aufs Gemüt.
Sie dachte an Wanja und daran, wie schön sie aussah, als sie dort tot am Baum hing, das Gesicht weiß und makellos wie Porzellan, die Augen geschlossen, so friedlich, als würde sie schlafen, und Wut und Trauer kochten gleichermaßen in Zara hoch.
Alles in ihr schrie nach Rache.
Rache für Wanja.
Rache für Jahn.
Rache für all die anderen armen, unschuldigen Seelen, die diesem Albtraum zum Opfer gefallen waren ...
Der graue Fleck wurde zunehmend heller und größer, bis sich ein Rechteck aus der Dunkelheit schälte, wie eine offene Tür, hinter der ein sanftes, stetes Licht brannte. Sie gingen unbeirrt darauf zu, und gerade, als sie nah genug waren, dass Zara auffiel, dass irgendetwas an dem Licht seltsam war, flüsterte Jael hinter ihr eindringlich ihren Namen: „Zara.“
Die Vampirin drehte sich fragend um.
Die Seraphim deutete mit grimmiger Miene auf die Wand des Tunnels, aus der mehrere Strünken Wurzelwerk ragten, dicke runde Baumwurzel, wie sie sie auf dem Weg durch den Tunnel zu Hunderten gesehen hatten. Deshalb war Zara im ersten Moment nicht sicher, was Jael von ihr wollte. Dann jedoch schaute sie genauer hin und stellte fest, dass es keine Wurzeln waren, die da aus dem Erdreich lugten, sondern – Knochen! Und als sie sich überrascht umschaute, erkannte Zara, dass rings um sie überall Knochen aus den Tunnelwänden und der Decke ragten – Schädel, Schienbeine, Ellbogen, Rippen – und dazwischen unzählige verfaulte, wurmzerfressene Holzsplitter, die aussahen, als stammten sie von ...
„Särge“, murmelte Zara. „Das sind Särge.“ Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was das bedeutete. „Wir sind unter dem Friedhof!“ Sie sah wieder nach vorn, zu dem Licht. „Dann muss das da die Kirche sein.“
„Oder die Pfarrei“, sagte Jael.
„Wir werden sehen“, brummte Zara grimmig, setzte sich wieder in Bewegung und folgte dem von menschlichen Gebeinen gespickten Tunnel weiter auf das Licht zu, das mit jedem Schritt heller wurde, und dann wurde ihr auch endlich klar, was es war, dass ihr daran so seltsam vorkam.
Der Lichtschein war grünlich; ein kaltes grünes Licht, das seinen matten Schein in den Tunnel warf und alles in eine seltsame, unwirkliche Helligkeit tauchte, fast so, als befände man sich auf dem Grund des Meeres. Dann hatten sie schließlich das Ende des Tunnels erreicht, traten durch das erleuchtete Rechteck, das sich als grob gemauerter Durchgang erwies, wie ein Türrahmen ohne Tür, und sie standen in einer unterirdischen Kammer von vielleicht zehn Schritten Länge und acht Schritten Breite.
Es war ein Ort der Verbotenen Künste.
Das seltsame grüne Licht erfüllte die gesamte Kammer mit seinem unwirklichen Schein und zeigte ein Wirrwarr magischer Schriften, Zeichen, Kritzeleien und Symbole an den gemauerten Steinwänden. Wie schon im Versteck der Bestien war auch hier nahezu jeder Quadratzentimeter mit dem schwarzmagischen Gekritzel bedeckt, nur dass es sich hierbei nicht um Bannsprüche handelte, sondern um Zauber, die so widerwärtig und bizarr waren, dass Jael bei ihrem Anblick erbleichte. Und dabei waren die Kritzeleien noch das Harmloseste in dieser Hexenküche, denn als sich Zara neugierig umsah, stellte sie fest, dass dieser Raum einem einzigen Zweck diente: der Anrufung und Anbetung der Schwarzen Mächte. Überall an den Wänden baumelten Sträuße mit getrockneten magischen Kräutern und Pflanzen – Silberdistel, Hexengrün, Harnischwurz, Eisenhut, Tollkirsche, Mutterkorn, Stechapfel und sogar Alraune –, in einem Regal reihten sich Einmachgläser mit Alkohol und tierischen Innereien, und von der Decke baumelten die Kadaver von Katzen und Schwarzwiesel, deren beißender Verwesungsgestank sich mit dem stechende Geruch der getrockneten Zauberkräuter zu einer Übelkeit erregenden Mischung vereinte.
Während die Tische und Regale unter der Last uralter staubiger Wälzer, Zauberbücher, Folianten und verschiedenster Zauberutensilien ächzten, befand sich in der Mitte der Kammer eine freie Fläche, wo ein Pentagramm von vielleicht drei Metern Durchmesser auf den Boden gemalt worden war. In Mittelpunkt des Pentagramms stand ein wuchtiger Dreifuß aus Eisen, auf dem eine große runde Schale aus schwarzem Onyx thronte, und in der Mitte der Onyxschale wiederum brannte eine säulenartige grüne Flamme, die statt Wärme eine eisige Kälte abgab.
Rings um die große Flammensäule brannten zwölf kleinere Flammen in der Schale, die sich von unförmigen schwarzen Klumpen näherten und die Hauptflamme mit Nahrung zu versorgen schienen. Im ersten Moment konnte Zara sich auf die Klumpen keinen Reim machen, doch als sie näher herantrat, erkannte sie, dass es sich dabei um Herzen handelte – um die brutal herausgerissenen Herzen der zwölf Jungfrauen, die den Bestien zum Opfer gefallen waren ...
Zara starrte auf die brennenden Herzen in der Schale, die der Flamme in der Mitte ihre Kraft zu geben schienen.
„Verdammtes Teufelszeug!“, rief sie und trat den Dreifuß mit der grünen Flamme in ohnmächtiger Wut um. „Elender, verfluchter Hokuspokus!“
Der Dreifuß stürzte mit einem harten Scheppern zu Boden. Die Onyxschale zerbarst mit einem gewaltigen Knall in winzige schwarze Splitter, und im gleichen Augenblick erlosch die große grüne Flamme. Auch die Herzen, die außerhalb des Pentagramms landeten, erloschen, doch die im Innern des magischen Symbols brannten weiter, wenn auch bei weitem nicht so stark wie zuvor.
Zara stand keuchend inmitten des Pentagramms und rang um Fassung.
„Das ändert gar nichts“, sagte Jael neben ihr düster und starrte auf die brennenden Herzen hinab. „Das Ritual wurde vollzogen. Der schwarze Zauber wirkt bereits ...“