Lüge, alles Lüge ...
Draußen vor den Fenstern der Pfarrei lag der Friedhof von Moorbruch im matten Licht des Vormittags. Dahinter hob sich die Kirche mit dem wuchtigen, fast quadratischen Glockenturm wie ein gewaltiger dunkler Grabstein vor dem wirbelnden Weiß des Schnees ab. Es war ein trostloser Anblick, doch zumindest würden nun keine neuen Gräber für die Opfer von Salieri und seinen Blutbestien mehr ausgehoben werden müssen.
Wenn es bei all diesem Irrsinn überhaupt etwas Tröstliches gab, dann das.
XXV.
Die Kunde vom Tod der Bestien und dass Salieri diesen ganzen schrecklichen Albtraum heraufbeschworen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Moorbruch und Umgebung. Schon bald wusste jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, dass ihnen von den Bestien, die Moorbruch in Furcht und Schrecken versetzt hatten, keine Gefahr mehr drohte. In Scharen trieb es die Menschen aus ihren Häusern und auf den großen Platz im Zentrum des Ortes, wo sie im stetig zunehmenden Schneefall aufgeregt und erleichtert jede Einzelheit und jedes neue Gerücht diskutierten, das die Runde machte. Doch so erleichtert sie auch waren, so fassungslos waren sie darüber, dass ein Mann aus ihrer Mitte all dies Leid und Grauen verursacht hatte. Salieri hatte seine Position auf schrecklichste Weise ausgenutzt, um die Menschen von Moorbruch schamlos zu belügen; er hatte mit all seinem Gerede über göttliche Strafen und Opfer, die dargebracht werden müssten, seine wahren Absichten verschleiert. Es war nicht nur ein Verrat an die Menschen von Moorbruch, den er begangen hatte, sondern auch an jenem Gott, den er zu dienen vorgegeben hatte, und an dem Glauben, an den sich die Menschen so fest geklammert hatten. Natürlich gab es anfangs Skeptiker, die Salieris Schuld nicht akzeptieren wollten, doch diese zweifelnden Stimmen verstummten rasch, als die ersten neugierigen Moorbrucher in den Keller der Pfarrei hinabstiegen und nicht lange darauf mit schreckensbleichen Gesichtern wieder heraufkamen.
Als Zara, Jael und Falk um die Mittagszeit im Schankraum der Taverne saßen und in grimmigem Schweigen ihre zweite Flasche Whiskey leerten, begann plötzlich die Kirchenglocke zu läuten. Im ersten Moment schoss Zara der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht doch nicht alle Bestien erwischt hatten und sich eine der überlebenden Kreaturen ein neues Opfer gesucht hatte. Als Zara, Jahn und Falk dann zusammen mit einer Hand voll weiterer Gäste hinaus auf den Platz liefen, sahen sie dichten schwarzen Rauch von der Pfarrei aufsteigen. Mit unbewegter Miene stand Zara vor dem Güldenen Tropfen und starrte hinüber zur Pfarrei, aus deren Fenstern nun armdicke Flammen schlugen, indes sich das Feuer anschickte, das Gebäude vom Keller bis zum Dachfirst zu verzehren. Zara griff in die Taschen ihres Rocks und begann ihre Pfeife zu stopfen. Sie riss ein Zündholz an ihrem Daumennagel an, hielt die Flamme über den Pfeifenkopf und schmauchte, bis der Tabak glomm. Dann ging sie zurück in den Güldenen Tropfen, um mit ihren Gefährten die dritte Flasche Whiskey zu leeren.
Auch wenn die Moorbrucher respektvolle Distanz zu ihren Rettern wahrten und sie weder mit Fragen löcherten noch sie mit Lobhudeleien belästigten, war ihre Dankbarkeit doch in jedem Blick zu erkennen und in jeder Geste zu spüren. Von der ausgelobten Belohnung allerdings wollte Zara nichts mehr wissen. Die Menschen hier hatten soviel Schlimmes durchgemacht, und sie besaßen so wenig. Ihnen dieses Wenige auch noch zu nehmen, wäre ihr schäbig vorgekommen, zumal die Menschen von Moorbruch vermutlich noch sehr lange unter den jüngsten Ereignissen zu leiden hatten.
So wie Jahn. Sobald Zara und Jael aufgebrochen waren, um der Spur der fliehenden Bestie zu folgen, hatten Falk und Ela den schwer Verletzten mit vereinten Kräften auf den Rücken von Falks Pferd gehievt. Falk hatte sich hinter ihn gesetzt und ihn auf dem ganzen Weg nach Moorbruch festgehalten, damit er nicht aus dem Sattel kippte. Jahn hatte immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein wiedererlangt und leise den Namen seiner toten Geliebten gemurmelt. Sie hatten ihn zum Haus des Heilers Manoly gebracht, der sich seiner annahm, sogleich aber sagte, dass er Jahns verletzten linken Arm nicht würde retten können.
Nachdem Zara und Jael Salieris Haus verlassen und den versammelten Einwohnern im Schankraum des Güldenen Tropfens die Nachricht überbracht hatten, dass der Winter der Bestie nun zu Ende war, waren sie noch einmal zum Teufelsfelsen geritten, und gut ein Dutzend Einwohner von Moorbruch hatte sie begleitet, eine stumme Delegation des Todes, um die tote Wanja nach Hause zu bringen, dorthin, wo sie hingehörte.
Als stiller Trauerzug ritten sie dann durch Moorbruch. Als sie am Haus von Bürgermeister von der Wehr vorbeikamen, erhaschte Zara hinter einem der Fenster im Obergeschoss einen kurzen Blick auf Wanjas Vater, der mit schreckensstarrem Gesicht zu ihnen herunterstarrte, das Haar wirr in der Stirn hängend, die Lippen zu einem schmalen zitternden Strich zusammengekniffen. Er sah aus, als wäre er innerhalb weniger Stunden um Jahre gealtert. Dann flog die Haustür auf, und Anna lief heraus, um mit sich überschlagender Stimme den Namen ihrer Schwester zu rufen und schluchzend im Schnee zusammenzubrechen. Falk stieg vom Pferd, kümmerte sich um sie, sprach tröstende Worte zu der jungen Frau und brachte sie wieder ins Haus.
Sie brachten die Tote zu dem kleinen bescheidenen Hof, wo Jahn mit seiner Schwester Ela lebte. Gemeinsam trugen sie Wanja ins Haus, wo sie sie in Jahns Bett legten, und während Ela in stummer Trauer begann, die Tote für ihre letzte Reise herzurichten, hoben Falk, Zara und Jael hinter dem Haus ein Grab aus; Wanja auf dem Friedhof zu beerdigen, erschien ihnen allen angesichts der ungeheuerlichen Blasphemie, die sich dort zugetragen hatte, wie ein Frevel. Die Erde war hart wie Stein und jeder Zentimeter, den sie aushoben, eine Qual, doch mit vereinten Kräften schafften sie es, und schließlich legten sie Wanjas gewaschene, gesalbte und in weiße Tücher gewickelte Leiche in den Schoß der Erde. Jael sprach ein kurzes Gebet, in dem sie die Alten Götter bat, Wanja in ihre Mitte aufzunehmen und ihr auf den blühenden Wiesen der Anderwelt ewigen Frieden und Ruhe zu gewähren.
Dann suchten Zara und Falk das Haus von Manoly auf, um sich nach Jahns Zustand zu erkundigen. Jahn war in einen dämmrigen Schlaf gefallen. Manoly erklärte zwar, dass der junge Mann sehr wahrscheinlich überleben würde, doch den linken Arm hatte er nicht retten können ...
Irgendwann, als die Dämmerung längst über die Welt hereingebrochen war, sagte Falk mit whiskeyschwerer Stimme: „Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass Salieri hinter all dem steckte. Dass ausgerechnet dieser Mann es war, der die Blutbestien hergeholt, gezüchtet und sie dazu abgerichtet hat, diese Frauen zu jagen und ihm ihre Herzen für seine abscheulichen schwarzmagischen Rituale zu bringen; einer, der den Wert des Lebens eigentlich mehr hätte würdigen müssen als irgendjemand sonst.“
Jael nickte. „Unfassbar“, stimmte sie zu, „und doch ist es so.“
Ja, es war so, und nach allem, was sie wussten, war das Ganze von langer Hand geplant gewesen, und sie konnten sich in etwa ausmalen, wie sich alles abgespielt hatte.
Wie sie von den Einwohnern erfahren hatte, war Salieri vor ungefähr fünfzehn Jahren nach Moorbruch gekommen, nachdem der alte Priester der Gemeinde einer unbekannten Krankheit zum Opfer gefallen war. Drei Tage nach dem Tod des Priesters traf Salieri in Moorbruch ein, und wiederum eine gute Woche später brannte das Anwesen derer von Humbug nahe des Teufelsfelsens, ohne dass man jemals herausfand, warum. Vieles deutete darauf hin, dass Salieri unmittelbar darauf mit dem Bau des unterirdischen Tunnels begonnen hatte, der den Keller der Pfarrei mit dem des Anwesens tief in den Wäldern verband; so konnte er jederzeit unbemerkt und ungesehen zwischen seiner Hexenküche und dem Versteck der Bestien wechseln. Woher er die Bestien hatte oder wie es ihm gelang, dafür zu sorgen, dass sie so lange unentdeckt bleiben, entzog sich ihrer Kenntnis. Nahezu sicher war jedoch, dass Salieri vom ersten Tag an die Absicht hatte, sie hier in Moorbruch und Umgebung auf die Jagd zu schicken, fernab der Zivilisation, wo die Chance, dass ihm die Obrigkeit auf die Schliche kam, eher gering war. Lange Jahre hatte er nur auf die richtige Gelegenheit gewartet, loszuschlagen, und als in diesem Jahr der Winter anbrach, befand er schließlich, dass die Zeit gekommen war, die Bestien zu entfesseln; was dafür den Ausschlag gegeben hatte, darüber konnten sie allenfalls Mutmaßungen anstellen, ebenso darüber, was er mit seinem verderbten Zauber bewirkt hatte. Als plötzlich Jahn mit Zara und Falk im Schlepp im Ort auftauchte, ahnte er, dass sein „Werk“ in Gefahr war, dass Zara ihm gefährlich werden konnte. Darum heuerte er die Attentäter an, um sich die Vampirin vom Hals zu schaffen, bevor Zara ihm auf die Schliche kam.