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»Was für einen Eindruck macht er?«

»Wie gewöhnlich ist ihm nicht das Geringste anzumerken, trägt Anzug und Krawatte, als wäre er auf dem Weg zu einer Vorstandssitzung. Der Mann hat keine Spur von Gewissen.«

»Doch«, sagte Erlendur. »Bestimmt hat er ein Gewissen.«

Erlendur war mit Elinborg ins Krankenhaus gefahren, sobald die Ärzte die Erlaubnis gegeben hatten, mit dem Jungen zu sprechen. Er war operiert worden und lag jetzt auf der Kinderstation mit anderen Kindern zusammen.

An den Wänden waren Kinderzeichnungen, Spielzeug lag auf den Betten, wo Eltern auf der Bettkante saßen, die nach schlaflosen Nächten erschöpft aussahen, unendlich besorgt wegen ihrer Kinder.

Elinborg setzte sich zu ihm. Der Junge trug einen dicken Kopfverband, sodass man vom Gesicht fast nur den Mund und die Augen sah, die den Kriminalbeamten voller Misstrauen entgegenblickten. Der Arm war eingegipst und hing an einem Haken über dem Bett. Unter dem Oberbett zeichneten sich die Verbände ab. Sie hatten die Milz retten können. Der Arzt hatte gesagt, dass sie gern mit dem Jungen reden dürften, aber es stehe auf einem anderen Blatt, ob er mit ihnen reden wolle.

Elinborg begann damit, von sich selber zu erzählen, wer sie war und was sie für Aufgaben bei der Polizei hätte, und sie fügte hinzu, dass sie hinter denen her wäre, die ihn so zugerichtet hätten. Erlendur stand etwas abseits und verfolgte das Gespräch mit. Der Junge starrte Elinborg an.

Sie wusste, dass sie eigentlich nicht mit ihm reden durfte, ohne dass ein Elternteil anwesend war. Sie hatten sich mit dem Vater im Krankenhaus verabredet, aber eine halbe Stunde war bereits verstrichen, ohne dass er aufgetaucht war.

»Wer hat das getan?«, fragte Elinborg endlich, als sie fand, dass sie zur Sache kommen konnte.

Der Junge blickte sie an und sagte keinen Ton.

»Wer hat dich so zugerichtet? Es ist ganz in Ordnung, wenn du mir das sagst. Die sollen nicht wieder über dich herfallen dürfen, das verspreche ich dir.«

Der Junge schaute zu Erlendur herüber.

»Waren das die Jungs in der Schule?«, fragte Elinborg. »Die großen Jungs? Wir wissen schon, dass zwei, von denen wir glauben, dass sie dich angegriffen haben könnten, richtige Rowdys sind. Sie haben schon früher andere Kinder angegriffen, aber nicht so schlimm. Sie behaupten, dass sie dir nichts getan haben, aber wir wissen, dass sie zu der Zeit in der Schule waren, wo du angegriffen wurdest. Bei ihnen war gerade die letzte Stunde zu Ende.«

Der Junge schaute Elinborg stumm an, während sie redete.

Sie war in der Schule gewesen und hatte mit dem Rektor und den Lehrern gesprochen, sie war bei den beiden Jungen zu Hause gewesen und hatte die Familienverhältnisse erkundet und ihnen zugehört, als sie behaupteten, dem Jungen nichts getan zu haben. Der Vater des einen war im Knast.

In diesem Augenblick kam ein Kinderarzt in das Krankenzimmer. Er erklärte, dass der Junge der Ruhe bedürfe, sie sollten später wiederkommen. Elinborg nickte, und sie verabschiedeten sich.

Später am gleichen Tag war Erlendur ebenfalls mitgekommen, um den Vater des Jungen in seinem Haus aufzusuchen. Der Vater gab die Erklärung ab, dass er vormittags an einer wichtigen Telefonkonferenz mit Geschäftspartnern in Deutschland und Amerika teilnehmen musste und deswegen nicht ins Krankenhaus gekommen war. »Das hat sich ganz plötzlich ergeben«, sagte er. Als er sich endlich freimachen konnte, hatten Elinborg und Erlendur das Krankenhaus gerade verlassen.

Während sie miteinander sprachen, fielen die schrägen Strahlen der Wintersonne durch die Wohnzimmerfenster und beleuchteten die Marmorfliesen auf dem Fußboden und den Teppich auf der Treppe zur oberen Etage. Elinborg, die da stand und seinen Erklärungen zuhörte, glaubte auf einmal einen Flecken auf dem Teppichboden, mit dem die Treppe ausgelegt war, zu erkennen, und dann noch einen auf der nächsten Stufe.

Kleine Flecken, fast unsichtbar, wenn nicht die Wintersonne so schräg ins Zimmer geschienen hätte.

Flecken, die beinahe aus dem Teppich entfernt worden waren und bei flüchtigem Hinsehen so wirkten, als sei das die Teppichstruktur.

Flecken, von denen sich herausstellte, dass es kleine Fußstapfen waren.

»Bist du noch dran?«, fragte Elinborg am Telefon. »Erlendur? Bist du noch dran?«

Erlendur kam wieder zu sich.

»Informier mich, wie’s läuft«, sagte er, und damit war das Gespräch beendet.

Der Oberkellner des Hotels war ein Mann um die vierzig, gertenschlank. Er trug einen schwarzen Anzug und hochglanzpolierte Lackschuhe. In einer Ecke des Speisesaals ging er die Listen mit den Tischreservierungen für den Abend durch. Nachdem Erlendur sich vorgestellt und gefragt hatte, ob er ihn einen Augenblick stören dürfe, blickte der Oberkellner langsam von dem abgegriffenen Reservierungsbuch hoch, und ein elegantes dünnes Oberlippenbärtchen und schwarze Bartwurzeln, die er bestimmt zweimal am Tag rasieren musste, kamen zum Vorschein, bräunlicher Teint und braune Augen.

»Ich habe Gulli eigentlich überhaupt nicht gekannt«, sagte der Mann, der Rósant hieß. »Schrecklich, was da mit ihm passiert ist. Habt ihr schon etwas herausgefunden?«

»Nichts«, sagte Erlendur kurz angebunden. Er dachte an die Laborantin — und an seine Tochter Eva Lind, die erklärt hatte, sie würde es nicht mehr durchhalten. Er wusste, was das zu bedeuten hatte, aber innerlich hoffte er, dass er sich irrte. »Jetzt an den Feiertagen ist ganz schön viel los, nicht wahr?«, sagte er.

»Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Jeder Tisch wird möglichst dreimal an einem Abend belegt, und das kann äußerst schwierig sein, weil manche Gäste der Meinung sind, dass sie das Büfett, wenn sie schon teuer dafür bezahlt haben, mit sich forttragen müssen. Der Mord im Keller hat nicht dazu beigetragen, unsere Situation zu verbessern.«

»Wohl nicht«, erwiderte Erlendur desinteressiert. »Du arbeitest dann also noch nicht lange hier, wenn du Guðlaugur gar nicht gekannt hast.«

»Nein, ich bin erst seit zwei Jahren hier. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun.«

»Wer, glaubst du, hat ihn hier im Hotel am besten gekannt? Oder überhaupt gekannt.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte der Oberkellner und strich sich mit dem Zeigefinger über diesen Strich von einem Schnurrbart. »Ich weiß gar nichts über diesen Mann. Vielleicht die Putzmannschaft? Wann bekommt man über die Ergebnisse der Speichelproben Bescheid?«

»Bescheid worüber?«

»Wer bei ihm war. Ist das nicht so ein DNA-Test?«

»Ja«, sagte Erlendur.

»Müsst ihr das womöglich ins Ausland schicken?«

Erlendur nickte.

»Weißt du, ob er hier im Keller Besuch bekommen hat? Von Leuten, die nichts mit dem Hotel zu tun haben?«

»Hier ist immer so viel Betrieb. So ist es halt in Hotels. Die Leute laufen wie die Ameisen raus und rein, rauf und runter, nie herrscht Ruhe. In der Hotelfachschule wurde uns beigebracht, dass es im Hotel nicht um das Gebäude geht oder die Zimmer, sondern um Menschen. Im Hotel dreht sich alles um Menschen. Nichts anderes. Wir haben dafür zu sorgen, dass sie sich wohl fühlen. Sich wie zu Hause fühlen. So ist es in Hotels.«

»Ich will versuchen, mir das zu merken«, sagte Erlendur und bedankte sich bei ihm.

Er ließ abchecken, ob Henry Wapshott inzwischen ins Hotel zurückgekehrt war, was aber nicht der Fall war. Doch immerhin war inzwischen der Empfangschef zur Arbeit erschienen und begrüßte Erlendur. Wieder hatte ein Bus vor dem Hotel gehalten, voll mit Touristen, die ins Foyer drängten. Der Empfangschef lächelte Erlendur verlegen zu und zuckte mit den Achseln, als sei es nicht seine Schuld, dass keine Zeit für ein Gespräch war und man auf bessere Zeiten warten müsste.

Sieben

Guðlaugur Egilsson hatte 1982 seine Tätigkeit in dem Hotel aufgenommen. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt. Zuvor hatte er in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet, zuletzt als Nachtwächter im Außenministerium. Als die Entscheidung getroffen wurde, im Hotel eine feste Stellung für einen Portier einzurichten, hatte er die Stelle bekommen. Damals herrschte ein Tourismus-Boom auf Island. Das Hotel war vergrößert worden, und mehr Leute wurden eingestellt. Der ehemalige Hoteldirektor wusste nicht mehr genau, weswegen Guðlaugur eingestellt worden war, konnte sich aber undeutlich erinnern, dass es nicht viele Bewerber auf die Stelle gegeben hatte.