Der Hoteldirektor hatte einen guten Eindruck von ihm. Er schien umgänglich, höflich und dienstbeflissen zu sein.
Im weiteren Verlauf erwies er sich als guter Mitarbeiter. Er hatte keinerlei Familie, weder Frau noch Kinder, was den Hoteldirektor etwas beunruhigte, denn meist waren Männer mit Familie zuverlässigere Arbeitskräfte. Ansonsten hatte Guðlaugur über sich und seine Vergangenheit nicht viel Worte gemacht.
Kurz nachdem er angefangen hatte, war er zum Hoteldirektor gekommen und hatte gefragt, ob es im Hotel irgendeine Art von Unterkunft für ihn gäbe, solange er irgendwo eine neue Bleibe zu finden versuchte. Ihm war kurzfristig gekündigt worden, er stand auf der Straße und schien ziemlich verzweifelt zu sein. Er wies den Hoteldirekter auf eine kleine Kammer am hintersten Ende eines Korridors im Keller hin, wo er sich gut vorstellen könnte, provisorisch unterzukommen, solange er noch keine Wohnung gefunden hatte. Sie hatten sich den Raum angeschaut, der mit allem möglichen Kram voll gestopft war, aber Guðlaugur sagte, er wüsste, wo man den so lange verstauen könnte, das meiste müsste man sicher sowieso nur wegwerfen.
So kam es, dass Portier Guðlaugur, später auch Weihnachtsmann, in sein winziges Zimmer einzog, wo er bis zu seinem Todestag lebte. Der Hoteldirektor ging zunächst davon aus, dass er höchstens ein paar Wochen dort bleiben würde. So hatte Guðlaugur es nach eigenen Worten vorgehabt, und die Kammer war ja auch nicht so, dass irgendjemand dort für längere Zeit leben wollte. Aber die Wohnungssuche zog sich in die Länge, und bald schien es irgendwie selbstverständlich zu sein, dass Guðlaugur im Hotel wohnte, vor allem als er neben dem simplen Portiersdienst nach und nach auch die Hausmeisteraufgaben übernahm. Mit der Zeit fanden alle es sehr praktisch, dass Guðlaugur nachts im Hotel zur Verfügung stand, wenn irgendetwas kaputtging oder schief lief und jemand zum Reparieren gebraucht wurde.
»Kurz nachdem Guðlaugur in seine Kammer gezogen war, hat der ehemalige Hoteldirektor hier aufgehört«, sagte Sigurður Óli, der oben bei Erlendur auf dem Zimmer saß und ihm von seinem Gespräch berichtete. Der Tag war fortgeschritten, und es ging auf den Abend zu.
»Weißt du, warum?«, fragte Erlendur. Er hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und starrte zur Decke. »Das Hotel war gerade erst erweitert worden, jede Menge neues Personal eingestellt, und er hört kurz danach auf. Findest du das nicht komisch?«
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich werde sehen, was er dazu sagt, falls du der Meinung bist, dass es tatsächlich eine Rolle spielen könnte. Ihm war nicht bekannt, dass Guðlaugur den Weihnachtsmann gespielt hatte. Das muss sich nach seiner Zeit so ergeben haben, und er war wirklich erschüttert darüber, dass man ihn in diesem Raum ermordet aufgefunden hat.«
Sigurður Óli blickte sich in dem kahlen Zimmer um.
»Willst du wirklich über Weihnachten hier bleiben?«, fragte er.
Erlendur ging nicht auf die Frage ein.
»Warum siehst du nicht zu, dass du nach Hause kommst?«
Schweigen.
»Die Einladung steht noch.«
»Vielen Dank, und schöne Grüße an Bergþóra«, sagte Erlendur nachdenklich.
»Was geht eigentlich ab bei dir?«
»Nichts, was dich angeht, wenn denn überhaupt bei mir … etwas abgeht«, sagte Erlendur. »Weihnachten geht mir auf den Geist.«
»Ich jedenfalls möchte möglichst schnell nach Hause«, sagte Sigurður Óli.
»Wie geht’s mit dem Kinderkriegen?«
»Nicht besonders.«
»Liegt das Problem bei dir?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben uns noch nicht untersuchen lassen, aber Bergþóra hat das schon in Erwägung gezogen.«
»Willst du überhaupt ein Kind?«
»Ja. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich will.«
»Wie spät ist es?«
»Schon nach halb sieben.«
»Geh nach Hause«, sagte Erlendur. »Ich werde mich mal um unseren Henry kümmern.«
Henry Wapshott war zwar ins Hotel zurückgekommen, befand sich aber nicht auf seinem Zimmer. Erlendur ließ von der Rezeption aus zu ihm durchklingeln und fuhr dann mit dem Aufzug hoch, um an der Zimmertür zu klopfen. Er bekam keine Antwort. Er überlegte, ob er den Hotelmanager dazu bringen sollte, das Zimmer zu öffnen, aber dazu musste er einen Durchsuchungsbefehl in der Hand haben, und das konnte sich bis spät in die Nacht hineinziehen. Außerdem war es völlig ungewiss, ob Henry Wapshott der Henry war, mit dem sich Guðlaugur um 18.30 Uhr verabredet hatte.
Erlendur stand auf dem Gang und ging die verschiedenen Optionen durch, als ein Mann zwischen fünfzig und sechzig um die Ecke bog und auf ihn zukam. Er trug eine abgewetzte braune Tweedjacke, grüne Khakihosen und ein blaues Hemd mit knallrotem Schlips. Grau meliertes Haar war sorgfältig über die Halbglatze gekämmt worden.
»Sind Sie das?«, fragte er auf Englisch, als er sich Erlendur näherte. »Mir wurde gesagt, dass jemand nach mir gefragt hat. Ein Isländer. Sind Sie Sammler? Wollten Sie sich mit mir treffen?«
»Heißen Sie Wapshott?«, fragte Erlendur. »Henry Wapshott?« Sein Englisch war nicht besonders gut. Er verstand zwar das meiste, aber mit dem Sprechen haperte es. Wegen zunehmender internationaler Verflechtungen in der Kriminalität hatte die Polizei spezielle Englischkurse eingerichtet, an denen Erlendur teilgenommen hatte. Es hatte ihm gefallen, und inzwischen las er sogar hin und wieder ein englisches Buch.
»Mein Name ist Henry Wapshott«, sagte der Mann. »Was wollen Sie von mir?«
»Wir sollten vielleicht nicht auf dem Gang herumstehen«, erklärte Erlendur. »Können wir auf Ihr Zimmer gehen? Oder …?«
Wapshott blickte auf die Zimmertür und dann wieder auf Erlendur.
»Vielleicht sollten wir hinunter in die Lobby gehen«, sagte er. »Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?«
»Gehen wir nach unten«, sagte Erlendur.
Henry Wapshott folgte ihm zögernd zum Aufzug. Als sie ins Foyer kamen, ging Erlendur zu einem etwas abseits stehenden Tisch in der Nähe des Restaurants, an dem man rauchen durfte. Sie setzten sich, und sofort erschien die Bedienung.
Es hatten sich schon wieder einige Gäste beim Büfett eingefunden, das Erlendur nicht weniger verlockend vorkam als am Abend vorher. Sie bestellten Kaffee.
»It’s very odd«, sagte Wapshott. »Ich war vor etwa einer halben Stunde genau an dieser Stelle mit jemandem verabredet, aber der Mann ist gar nicht aufgetaucht. Er hat mir keine Nachricht hinterlassen, aber dann stehen Sie auf einmal vor meiner Tür und gehen wieder mit mir nach unten.«
»Wen wollten Sie hier treffen?«
»Einen Isländer. Er arbeitet hier im Hotel. Er heißt Guðlaugur Egilsson.«
»Und Sie waren heute hier um halb sieben mit ihm verabredet?«
»Genau«, sagte Wapshott. »Was …? Wer sind Sie?«
Erlendur informierte ihn darüber, dass er von der Polizei sei und ging kurz auf den Mord an Guðlaugur ein und die Tatsache, dass sie einen Zettel in seinem Zimmer gefunden hatten, der auf eine Verabredung mit einem Mann namens Henry schließen ließ. Das war also offensichtlich er gewesen. Die Polizei interessierte sich dafür, weswegen sie sich treffen wollten. Erlendur erwähnte nicht, dass seiner Meinung nach Wapshott ganz gut in dem Kabuff des Weihnachtsmanns gewesen sein konnte, als er ermordet wurde. Er sagte nur, dass Guðlaugur zwanzig Jahre lang in dem Hotel gearbeitet hatte.