Meinen Informationen zufolge war er ein bekannter Kinderstar.«
»Kinderstar?«
»Es wurden zwei Platten mit ihm herausgegeben, einmal eine Soloplatte und dann eine, wo er mit einem Kirchenchor singt. Er muss doch seinerzeit einen ziemlich bekannten Namen gehabt haben.«
»Kinderstar«, wiederholte Erlendur. »Sie meinen wie Shirley Temple? Meinen Sie so einen Kinderstar?«
»Wahrscheinlich, nach den Maßstäben hierzulande, hier auf Island, meine ich. Er muss doch sehr bekannt gewesen sein, auch wenn alle ihn heutzutage vergessen haben. Shirley Temple war …«
»The Little Princess«, murmelte Erlendur wie zu sich selbst.
»Wie bitte?«
»Ich habe nicht gewusst, dass er ein Kinderstar war.«
»Es ist natürlich viele Jahre her.«
»Und was dann? Es wurden also Plattenaufnahmen mit ihm gemacht?«
»Ja.«
»Die Sie in Ihrer Sammlung haben?«
»Ich versuche, an solche Exemplare heranzukommen. Mein Spezialgebiet sind Chorknaben wie er. Er hatte eine einzigartige Knabenstimme.«
»Chorknabe?«, sagte Erlendur wie zu sich selbst. Er sah im Geiste das Plakat mit der kleinen Prinzessin vor sich und wollte gerade Wapshott näher nach dem Kinderstar Guðlaugur Egilsson ausfragen, aber er kam nicht dazu.
»Hier bist du also«, hörte er jemanden von oben sagen, und er blickte hoch. Valgerður stand hinter ihm und lächelte.
Sie hatte keine Instrumententasche in der Hand. Sie trug eine dünne, schwarze Lederjacke, die bis zu den Knien reichte, und darunter einen schönen roten Pullover. Sie war so dezent geschminkt, dass es kaum zu sehen war.
»Steht die Einladung immer noch?«, fragte sie.
Erlendur sprang auf, aber Wapshott war noch schneller als er.
»Entschuldige«, sagte Erlendur, »mir war nicht klar … Selbstverständlich.« Er lächelte zurück. »Natürlich.«
Acht
Nachdem sie sich ausgiebig am Büfett gütlich getan und einen Kaffee getrunken hatten, gingen sie in die Bar neben dem Speisesaal. Erlendur bestellte Getränke für sie, und sie setzten sich in eine abgetrennte Nische im Inneren der Bar.
Sie sagte, dass es nicht zu spät für sie werden dürfe, was Erlendur als höfliche Vorsicht auslegte. Nicht, dass er sie auf sein Zimmer einladen wollte, das wäre ihm im Traum nicht eingefallen, und das wusste sie auch selbst. Er merkte aber, dass sie unsicher war, und er spürte ihre defensive Haltung, ähnlich wie bei denen, die zum Verhör zu ihm kamen. Vielleicht wusste sie selbst nicht, was sie da tat.
Sie fand es interessant, sich mit einem Kriminalbeamten zu unterhalten, und erkundigte sich ausführlich nach seiner Arbeit, nach den unterschiedlichen Kriminaldelikten und wie man bei der Verbrecherjagd vorgeht. Erlendur erwiderte, dass der größte Teil der Arbeit aus langweiliger Bürotätigkeit bestand.
»Aber die Delikte sind brutaler geworden«, sagte sie. »Das liest man in den Zeitungen. Grausamere Verbrechen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Erlendur. »Verbrechen sind immer grausam.«
»Man hört doch dauernd was aus der Drogenszene, über Geldeintreiber und wie sie über die Jugendlichen herfallen, die ihnen Geld schulden, und wenn diese Kinder nicht bezahlen können, wenden sie sich an die Familienangehörigen und erpressen sie.«
»Ja«, sagte Erlendur, der sich nicht selten derartige Sorgen wegen Eva Lind machen musste. »Die Welt hat sich ganz schön verändert. Die Brutalität hat zugenommen.«
Sie schwiegen.
Erlendur versuchte, zu einem anderen Gesprächsthema überzuwechseln, aber er verstand sich nicht auf Frauen. Die Frauen aus seinem Bekanntenkreis hätten ihn nicht auf so etwas wie das hier vorbereiten können, was gemeinhin wohl unter der Bezeichnung romantischer Abend lief. Elinborg und er waren befreundet und gute Arbeitskollegen, und ihre gegenseitige Zuneigung war aus jahrelanger Zusammenarbeit und gemeinsamer Erfahrung erwachsen. Eva Lind war seine Tochter, um die er sich ständig Sorgen machen musste. Halldóra war die Frau, die er vor mehr als einem Menschenalter geheiratet hatte und die ihm nach der Scheidung nur noch Hass entgegenbringen konnte. Das waren die Frauen in seinem Leben, und dann vielleicht noch ein paar flüchtige Bekanntschaften, die nichts hinterlassen hatten als Enttäuschung und Verwirrung.
»Was ist mit dir?«, fragte er, als sie sich gesetzt hatten.
»Warum hast du dich anders entschlossen?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete sie. »Es ist lange her, dass ich so eine Einladung bekommen habe. Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, mich einzuladen?«
»Ich habe keine Ahnung. Das mit dem Büfett ist mir idiotischerweise so rausgerutscht. So was habe ich auch seit langem nicht mehr gemacht.«
Sie grinsten beide.
Er erzählte ihr von Eva Lind und seinem Sohn Sindri, und sie sagte ihm, dass sie zwei Söhne hätte, auch schon erwachsen. Er spürte, dass sie nicht gern über sich selber und ihre Verhältnisse sprach. Er hatte nicht vor, in ihrem Leben herumzuschnüffeln.
»Habt ihr irgendwas in Bezug auf den Ermordeten herausfinden können?«
»Nein, eigentlich nicht. Der Mann, mit dem ich vorhin da vorne gesprochen habe …«
»Habe ich euch gestört? Ich wusste nicht, dass es etwas mit der Ermittlung zu tun hatte.«
»Das war ganz in Ordnung«, sagte Erlendur. »Er sammelt Platten, also Schallplatten, und es stellte sich heraus, dass der Ermordete im Keller ein Kinderstar gewesen ist, vor vielen Jahren.«
»Ein Kinderstar?«
»Hat sogar auf Platten gesungen.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es schwierig ist, ein Kinderstar zu sein«, sagte Valgerður. »Als Kind solche Träume und Erwartungen zu haben, und meist wird dann gar nichts daraus. Was dann wohl an die Stelle tritt?«
»Dann vergräbst du dich in einem Kabuff und hoffst, dass sich niemand mehr an dich erinnert.«
»Glaubst du das?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht erinnern sich ja einige an ihn.«
»Glaubst du, dass das mit dem Mord in Verbindung steht?«
»Was?«
»Dass er ein Kinderstar war.«
Erlendur hatte versucht, so wenig wie möglich über die Ermittlungen zu sagen, ohne abweisend zu wirken. Er hatte bisher keine Zeit gehabt, über diese Frage nachzudenken, und war sich noch nicht im Klaren, ob sie eine Rolle spielte oder nicht.
»Wir wissen es noch nicht. Das wird sich herausstellen.«
Sie schwiegen.
»Du bist aber kein Kinderstar gewesen«, sagte sie und lächelte.
»Nein«, sagte Erlendur. »In jeder Hinsicht völlig untalentiert.«
»Das Gleiche gilt für mich«, sagte Valgerður. »Ich zeichne immer noch wie eine Dreijährige.«
»Was machst du, wenn du nicht arbeitest?«, fragte sie, nachdem sie sich eine Weile schweigend gegenübergesessen hatten.
Erlendur war nicht auf diese Frage gefasst und zögerte, bis sie anfing zu lächeln.
»Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte sie, als er nicht antwortete.
»Nein, das … ich bin es nicht gewohnt, über mich selber zu sprechen«, sagte Erlendur.
Er konnte ihr nicht sagen, dass er Golf spielte oder irgendeinen anderen Sport trieb. Irgendwann hatte er sich mal für Boxen interessiert, aber das war schon lange vorbei.
Er ging nie ins Kino und schaute sich nur ganz selten etwas im Fernsehen an, ging nicht ins Theater. Reiste im Sommer allein in Island herum, aber auch seltener in den letzten Jahren. Was machte er, wenn er nicht arbeitete? Er wusste es selber nicht. Meistens war er allein mit sich selbst.
»Ich lese viel«, sagte er plötzlich.
»Und was liest du?«, fragte sie.
Wieder zögerte er, und wieder musste sie lächeln.
»Ist das so schwierig?«, sagte sie.
»Über tragische Unfälle und Bergnot«, sagte er. »Tödliche Unfälle in den Bergen. Leute, die vor Kälte und Erschöpfung umkommen. Da gibt’s eine eigene Literatursparte. Das war früher einmal populär.«