»Unfälle und Bergnot?«
»Aber auch vieles andere, natürlich. Ich lese viel. Geschichte. Philosophie. Historische Sachen.«
»Also alles, was vergraben und vergessen ist?«
Er nickte zustimmend.
»Die Vergangenheit hält einen in der Hand«, sagte er. »Obwohl sie auch manchmal erlogen sein kann.«
»Aber warum tödliche Unfälle? Menschen, die im Schneesturm erfrieren. Ist das nicht schrecklich zu lesen?«
Erlendur lächelte in sich hinein.
»Du solltest bei der Polizei sein«, sagte er. Es war ihr gelungen, in dieser kurzen Abendstunde bis zu einem Bereich in seinem Inneren vorzudringen, der sorgfaltig versperrt und verschlossen war, sogar für ihn selber. Er wollte nicht darüber reden. Eva Lind wusste zwar etwas darüber, aber nichts Genaues, und sie sah da auch keine besondere Verbindung zu seinen Interessen. Er saß lange schweigend da.
»Es hat sich halt mit den Jahren so entwickelt«, sagte er schließlich und bereute diese Lüge sofort. »Aber was ist mit dir? Was machst du, wenn du nicht gerade den Leuten Wattepinnchen in den Mund stopfst?«
Er versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben und einen leichteren Ton anzuschlagen, aber die Verbindung zwischen ihnen war gestört, und das war seine Schuld.
»Ich habe eigentlich zu nichts anderem Zeit gehabt als zu arbeiten«, sagte sie und spürte, dass sie unbewusst etwas angerührt hatte, worüber er nicht reden wollte, und sie wusste nicht, was das war. Sie wurde verlegen, und er spürte das.
»Ich finde, wir sollten das hier bald einmal wiederholen«, sagte er, um den Abend abzuschließen. Die Lüge war zu viel für ihn.
»Unbedingt«, sagte sie. »Ich war erst ziemlich unschlüssig, aber ich bereue es ganz und gar nicht. Ich möchte, dass du das weißt.«
»Ich bereue es auch nicht«, sagte er.
»Gut«, sagte sie. »Dann vielen Dank für alles. Danke für den Drambuie«, sagte sie und leerte das Glas. Er hatte sich ebenfalls einen Drambuie bestellt, um ihr Gesellschaft zu leisten, aber ihn nicht angerührt.
Erlendur lag ausgestreckt auf seinem Bett im Hotelzimmer und starrte zur Decke. Es war immer noch kalt in dem Zimmer, und er war vollständig angekleidet. Draußen schneite es. Es war weicher und schöner Schnee, der zart vom Himmel rieselte und sich am Boden gleich auflöste. Nicht kalt und hart und gnadenlos wie der Schnee, der tötete und verstümmelte.
»Was für Flecken sind das?«, fragte Elinborg den Vater.
»Flecken?«, fragte er. »Was für Flecken?«
»Hier auf dem Teppich«, sagte Erlendur. Elinborg und er waren gerade aus dem Krankenhaus gekommen, wo sie den Jungen besucht hatten. Die Strahlen der Wintersonne fielen auf die mit Teppichboden ausgelegte Treppe, die nach oben führte, wo sich das Zimmer des Jungen befand.
Die Flecken im Teppich waren deutlich zu erkennen.
»Ich sehe keine Flecken«, erklärte der Vater, bückte sich und starrte auf den Teppichboden.
»Sie sind ziemlich deutlich bei dieser Beleuchtung«, sagte Elinborg und schaute aus dem Wohnzimmerfenster auf die Sonne. Sie stand sehr tief am Himmel und schien einem direkt in die Augen. Sie blickte auf die beigefarbenen Marmorfliesen, die Feuer gefangen zu haben schienen.
Nicht weit von der Treppe stand ein schöner Barschrank mit starken Getränken, teuren Likören. Rotwein- und Weißweinflaschen reihten sich wie vorgeschrieben in den entsprechenden Regalen auf. Der Schrank hatte zwei Glastüren, und an einer Tür erkannte Erlendur undeutliche Wischspuren. An der Schrankseite, die zur Treppe ging, hing ein kleiner Tropfen, der anderthalb Zentimeter weit hinabgeflossen war. Elinborg ging mit dem Finger darüber, er war klebrig.
»Ist hier bei dem Schrank etwas passiert?«, fragte Erlendur.
Der Vater schaute ihn an.
»Worüber redest du eigentlich?«
»Da scheint was drangespritzt zu sein. Du hast ihn erst kürzlich abgewischt.«
»Nein«, sagte der Vater, »nicht kürzlich.«
»Diese Spuren da auf der Treppe«, sagte Elinborg, »die scheinen mir von einem Kind zu stammen, oder irre ich mich da?«
»Ich sehe keine Spuren auf der Treppe«, erklärte der Vater.
»Eben noch hast du von Flecken geredet. Was willst du eigentlich damit sagen?«
»Warst du zu Hause, als der Junge attackiert wurde?«
Der Vater schwieg.
»Er wurde in der Schule überfallen«, fuhr Elinborg fort.
»Die Schule war schon zu Ende, aber er hat noch Fußball gespielt, und als er nach Hause wollte, wurde er angegriffen. Wir sind davon ausgegangen, dass es sich so abgespielt hat. Er hat nicht mit dir reden können und auch nicht mit uns. Ich glaube, er will das nicht. Traut sich nicht. Vielleicht, weil die Jungs ihm gesagt haben, dass sie ihn umbringen würden, wenn er der Polizei was verrät. Vielleicht, weil jemand anderes ihm gesagt hat, dass er ihn umbringen wird, wenn er mit uns redet.«
»Worauf soll das Ganze hinauslaufen?«
»Warum bist du an dem Tag so früh von der Arbeit gekommen? Du bist mitten am Tag nach Hause gekommen. Der Junge hat sich nach Hause geschleppt, und du hast kurze Zeit später die Polizei verständigt.«
Elinborg hatte schon vorher darüber nachgedacht, was der Vater in einer normalen Arbeitswoche wohl mitten am Tag zu Hause zu suchen hatte, aber erst jetzt danach gefragt.
»Niemand hat ihn auf dem Heimweg aus der Schule gesehen«, sagte Erlendur.
»Du wirst doch wohl nicht etwa andeuten wollen, dass ich … dass ich in dieser Form über meinen Sohn hergefallen bin? Das willst du mir doch wohl nicht zu verstehen geben?«
»Hättest du etwas dagegen, wenn wir diesem Teppich hier eine Gewebeprobe entnehmen?«
»Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ihr jetzt verschwindet«, sagte der Vater.
»Ich will nichts andeuten«, sagte Erlendur. »Der Junge wird früher oder später erzählen, was passiert ist. Vielleicht nicht jetzt und auch nicht nach einer Woche oder einem Monat oder sogar einem Jahr, aber er wird eines Tages davon erzählen.«
»Raus«, sagte der Vater ungehalten und offensichtlich wütend. »Was fällt dir … Was fällt euch … Haut ab. Verschwindet! Raus mit euch!«
Elinborg fuhr direkten Wegs wieder zurück ins Krankenhaus und ging in die Kinderabteilung. Der Junge schlief, den Arm in der Binde hängend. Sie setzte sich zu ihm und wartete darauf, dass er aufwachte. Sie hatte eine Viertelstunde dagesessen, als der Junge wach wurde und eine erschöpfte Polizistin an seinem Bett sah, aber nicht den Mann mit der Strickweste und den traurigen Augen, der heute Vormittag bei ihr gewesen war. Sie schauten einander in die Augen.
Elinborg lächelte und fragte, so sanft sie nur konnte.
»War es dein Vater?«
Später am Abend kehrte sie mit einigen Leuten von der Spurensicherung und einem Durchsuchungsbefehl in der Hand in das Haus in Breiðholt zurück. Sie nahmen die Flecken auf dem Teppich in Augenschein. Sie untersuchten den Marmorboden und den Barschrank. Sie nahmen Proben. Sie saugten Partikel vom Marmorboden auf und schabten den klebrigen Tropfen ab. Sie gingen die Treppe hinauf zum Zimmer des Jungen und untersuchten das Bettgestell. Sie gingen in die Waschküche und nahmen sich Wischlappen und Handtücher vor und die dreckige Wäsche. Sie öffneten den Staubsauger. Sie holten Gewebeproben aus dem Besen.
Sie gingen zur Mülltonne und wühlten im Abfall. In der Tonne fanden sie einen Socken des Jungen.
Der Vater stand in der Küche. Er rief einen Rechtsanwalt an, seinen Freund, sobald die Polizei auf der Bildfläche erschienen war. Der Rechtsanwalt kam unverzüglich und schaute sich den Durchsuchungsbefehl an. Er riet seinem Klienten, sich der Polizei gegenüber nicht zu äußern.
Elinborg und Erlendur beobachteten die Leute von der Spurensicherung bei der Arbeit. Elinborg warf dem Vater bohrende Blicke zu, der den Kopf schüttelte und wegschaute.