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»Ich begreife nicht, was ihr wollt«, erklärte er, »ich begreife es einfach nicht.«

Der Junge hatte nicht gegen seinen Vater ausgesagt. Als Elinborg ihn fragte, hatte er keine andere Reaktion gezeigt, als dass sich seine Augen mit Tränen füllten.

Zwei Tage später meldete sich der Chef der Spurensicherung.

»Es ist wegen der Flecken auf dem Teppich.«

»Ja«, sagte Elinborg.

»Drambuie.«

»Drambuie? Der Likör?«

»Es gibt Reste davon im ganzen Wohnzimmer und an den Fußspuren, bis in das Zimmer des Jungen.«

Erlendur starrte immer noch zur Decke, als an die Tür geklopft wurde. Er stand auf und öffnete. Eva Lind schlüpfte herein. Erlendur schaute auf den Flur hinaus und machte die Tür hinter ihr zu.

»Mich hat niemand gesehen«, sagte Eva. »Es wäre aber viel einfacher, wenn du bei dir zu Hause wärst. Ich kapier nicht, was bei dir abgeht.«

»Ich komm schon irgendwann nach Hause«, sagte Erlendur. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Wieso treibst du dich so herum? Fehlt dir was?«

»Muss ich einen besonderen Grund haben, wenn ich dich treffen will?«, sagte Eva, setzte sich an den Schreibtisch und zog eine Zigarettenschachtel heraus. Sie warf eine Plastiktüte auf den Boden und nickte ihm zu. »Ich hab dir ein paar Klamotten gebracht«, sagte sie. »Falls du hier im Hotel herumhängen willst, brauchst du was zum Wechseln.«

»Vielen Dank«, sagte Erlendur und setzte sich ihr gegenüber aufs Bett. Er bekam eine Zigarette von ihr, und Eva zündete sie für sie beide an.

»Nett, dich zu sehen«, sagte er und blies den Rauch von sich.

»Kommst du vorwärts mit dem Weihnachtsmann?«

»So langsam. Was gibt ’s Neues bei dir?«

»Nichts.«

»Was macht deine Mutter, hast du sie getroffen?«

»Ja, immer dasselbe. Bei ihr tut sich überhaupt nichts. Arbeit, Glotze, Schlafen. Arbeit, Glotze, Schlafen. Ist das alles, was einen erwartet? Soll man sich deswegen auf dem geraden Weg halten, nur um sich krumm zu schuften, bis man umfällt? Und guck dich doch bloß mal selber an! Hockst da wie ein Trottel in einem Hotelzimmer rum, anstatt dich nach Hause zu verkrümeln!«

Erlendur inhalierte tief und blies den Rauch durch die Nase aus. »Ich hatte nicht vor, zu …«

»Nein, ich weiß«, unterbrach ihn Eva Lind.

»Hältst du nicht mehr durch?«, sagte er. »Als du gestern gekommen bist …«

»Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.«

»Was ertragen?«

»Dieses Scheißleben!«

Sie saßen und rauchten, und die Zeit verging.

»Denkst du manchmal an das Kind?«, fragte Erlendur schließlich. Nach der Fehlgeburt hatte sie immer wieder schwere Depressionen gehabt. Erlendur wusste, dass das alles andere als ausgestanden war. Sie gab sich immer noch selbst die Schuld am Tod des Kindes. An dem Abend, an dem er sie nach ihrem Notruf in einer Blutlache vor dem Krankenhaus gefunden hatte, hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre selber ums Leben gekommen.

»Dieses Scheißleben«, sagte sie noch einmal und drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus.

Als Eva Lind weg war und Erlendur sich hingelegt hatte, klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Es war Marian Briem.

»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte Erlendur und schaute auf seine Armbanduhr. Es war schon nach Mitternacht.

»Nein«, sagte Marian. »Ich habe über diese Speichelspuren nachgedacht.«

»Den Speichel an dem Kondom?«, fragte Erlendur und hatte keine Lust, sich aufzuregen.

»Die finden das sicher auch selber heraus, aber es kann vielleicht nichts schaden, sie an das Kortisol zu erinnern.«

»Ich muss sowieso noch mit der Abteilung reden, die werden uns bestimmt etwas über das Kortisol erzählen.«

»Dann kannst du dir das eine oder andere ausrechnen und sehen, was sich da in diesem Kellerloch abgespielt hat.«

»Ich weiß, Marian. Sonst noch was?«

»Ich wollte dich nur an das Kortisol erinnern.«

»Gute Nacht, Marian.«

»Gute Nacht.«

Dritter Tag

Neun

Früh am darauf folgenden Tag trafen sich Erlendur, Sigurður Óli und Elínborg zu einer Besprechung im Hotel. Sie bedienten sich am Frühstücksbüfett und nahmen etwas abseits an einem kleinen runden Tisch Platz. In der Nacht hatte es zwar geschneit, es war dann aber wieder wärmer geworden, und auf den Straßen war inzwischen kein Schnee mehr zu sehen. Das Wetteramt prophezeite grüne Weihnachten. Der Weihnachtsrummel hatte seinen Höhepunkt erreicht. Lange Autoschlangen bildeten sich an allen Kreuzungen Reykjaviks, und in der Stadt wimmelte es von Menschen.

»Dieser Wapshott«, sagte Sigurður Óli. »Wer ist das?«

Viel Lärm um nichts, dachte Erlendur, nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Merkwürdiger Ort, so ein Hotel. Es war eine Abwechslung, in einem Hotel zu übernachten, aber es war ein merkwürdiges Gefühl, dass jemand in seiner Abwesenheit sein Zimmer betrat und alles in Ordnung brachte. Er verließ sein Zimmer morgens, und wenn er das nächste Mal wieder hereinkam, war jemand drinnen gewesen und hatte alles aufgeräumt; das Bett gemacht, die Handtücher ausgewechselt, ein neues Stück Seife auf das Waschbecken gelegt. Er spürte die Nähe dieser Person, die sein Zimmer in Ordnung brachte, aber er bekam sie nie zu Gesicht und wusste nicht, wer in seinem Leben aufräumte.

Er war an diesem Morgen zur Rezeption gegangen und hatte darum gebeten, dass sein Zimmer nicht angerührt wurde.

Wapshott würde sich im Verlauf des Vormittags noch einmal mit ihm treffen und ihm mehr über seine Plattensammlung und die Karriere von Guðlaugur Egilsson erzählen. Sie hatten sich mit Handschlag verabschiedet, nachdem sie gestern Abend von Valgerður unterbrochen worden waren. Wapshott hatte kerzengerade dagestanden und darauf gewartet, dass Erlendur ihn dieser Frau vorstellen würde, aber als nichts dergleichen geschah, streckte er selber die Hand aus, sagte seinen Namen und verbeugte sich. Dann zog er sich mit der Entschuldigung zurück, er sei müde und hungrig und wolle noch mal kurz auf sein Zimmer, bevor er etwas zu sich nähme und anschließend zu Bett ginge.

Sie hatten ihn nicht in den Speisesaal kommen sehen, während sie dort aßen und miteinander redeten. Vielleicht hatte er sich das Essen aufs Zimmer bestellt. Valgerður hatte bemerkt, wie müde er aussah.

Erlendur hatte sie zur Garderobe begleitet und ihr in die schöne Lederjacke geholfen. Er war mit ihr zur Drehtür gegangen, wo sie einen Augenblick innehielten, bevor sie in das Schneetreiben hinausging. Beim Einschlafen, nachdem Eva Lind ihn verlassen hatte, begleitete ihn Valgerðurs Lächeln in den Schlaf und ein schwacher Hauch von ihrem Parfüm, der an seiner Hand haften geblieben war, nachdem sie sich verabschiedet hatten.

»Erlendur?«, sagte Sigurður Óli. »Hallo? Was für ein Mann ist Wapshott?«

»Ich weiß nur, dass er Engländer ist und Platten sammelt«, erklärte Erlendur, der ihnen über das Gespräch mit Wapshott berichtet hatte. »Und er wird morgen das Hotel verlassen. Du solltest dich telefonisch mit den Kollegen in England in Verbindung setzen und Erkundigungen über ihn einziehen. Ich treffe ihn am späten Vormittag noch einmal, und dann kriege ich mehr aus ihm heraus.«

»Ein Chorknabe?«, fragte Elinborg. »Wer würde einen Chorknaben umbringen?«

»Er war natürlich kein Chorknabe mehr«, warf Sigurður Óli ein.

»Er war früher einmal berühmt«, sagte Erlendur. »Die Platten, die mit ihm herausgegeben wurden, sind offensichtlich auch heute noch gefragt und gelten als Rarität. Ihretwegen kommt Henry Wapshott extra aus England angereist, und auch seinetwegen. Sein Spezialgebiet sind Knabenchöre beziehungsweise Chorknaben.«