»Ich kenne bloß die Wiener Sängerknaben«, sagte Sigurður Óli.
»Spezialgebiet Knaben«, sagte Elinborg. »Was für ein Mensch ist das, der Chorknaben auf Schallplatten sammelt? Sollte man nicht ein bisschen darüber nachdenken? Stimmt da womöglich was nicht mit diesem Mann?«
Erlendur und Sigurður Óli schauten sich an.
»Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.
»Was?«, sagte Elinborg und machte große Augen.
»Findest du es merkwürdig, Schallplatten zu sammeln?«
»Nicht Platten, sondern Chorknaben«, sagte Elinborg.
»Chorknaben auf Schallplatten. Da ist schon ein gewisser Unterschied, finde ich. Seht ihr wirklich nicht, dass das nicht ganz normal ist?« Sie blickte von einem zum anderen.
»Ich habe einfach nicht deine schmutzige Phantasie«, sagte Sigurður Óli und blickte auf Erlendur.
»Schmutzige Phantasie! Habe ich mir etwa den Weihnachtsmann in seinem Kabuff mit runtergelassenen Hosen und einem Kondom am Pimmel eingebildet? Brauchte es dazu irgendwelche Phantasie? Und dann stellt sich heraus, dass hier ein Mann im Hotel ist, der den Weihnachtsmann verehrt, aber nur als er zwölf Jahre alt war oder so, und er kommt extra von England hierher, um sich mit ihm zu treffen. Tickt ihr eigentlich noch richtig?«
»Deiner Meinung nach hat das also etwas mit seinem Sexualverhalten zu tun?«, fragte Erlendur.
Elinborg verdrehte die Augen.
»Tut doch nicht so, als ob ihr Mönche wärt!«
»Er ist doch bloß Schallplattensammler«, sagte Sigurður Óli.
»Wie Erlendur gesagt hat, es gibt sogar Leute, die Kotztüten sammeln. Was mögen die wohl für sexuelle Gepflogenheiten haben, gemessen an deinen Theorien?«
»Ich begreife nicht, wir ihr so blind sein könnt! Oder so verklemmt. Warum sind Männer immer so blockiert und verklemmt?«
»Mensch, fang jetzt bloß nicht mit so was an«, sagte Sigurður Óli. »Warum reden Frauen ewig darüber, dass Männer so blockiert sind. Als ob Frauen das nicht wären, mit ihrem ewigen ›Oh, ich finde meinen Lippenstift nicht‹, und ›oh …‹.«
»Blinde und verklemmte alte Mönche«, sagte Elinborg.
»Was beinhaltet das, ein Sammler zu sein?«, fragte Erlendur. »Warum häufen die Leute bestimmte Dinge um sich herum an, und warum finden sie das eine Objekt wertvoller als alles andere?«
»Einige Dinge sind wertvoller als andere«, sagte Sigurður Óli.
»Sie suchen doch wohl nach irgendwas, das besonders und einmalig ist. Etwas, das niemand anderer besitzt. Ist das nicht letztlich das Ziel? Eine Kostbarkeit zu besitzen, die niemand anderes auf der Welt besitzt.«
»Sind das nicht eher komische Zeitgenossen?«, fragte Elinborg.
»Komische?«
»Eigenbrötler. Stimmt das nicht? Sonderlinge?«
»Du hast da im Schrank bei Guðlaugur Platten gefunden«, sagte Erlendur zu ihr. »Was hast du damit gemacht? Hast du sie dir angeschaut?«
»Ich habe sie da nur im Schrank stehen sehen«, erwiderte Elinborg. »Ich habe sie nicht angerührt, und die sind da immer noch, falls du sie dir anschauen willst.«
»Wie kommt ein Mann wie Wapshott in Kontakt mit Guðlaugur?«, fuhr Elinborg fort. »Wieso hat er von ihm gewusst? Gibt’s da vielleicht Kontaktpersonen? Wie kommt er auf isländische Schallplatten mit Choraufnahmen aus den siebziger Jahren? Wieso weiß er von einem Jungen, der vor mehr als dreißig Jahren in Island Platten besungen hat?«
»Zeitschriften?«, sagte Sigurður Óli. »Internet? Telefon? Andere Sammler?«
»Wissen wir inzwischen etwas mehr über Guðlaugur?«, fragte Erlendur.
»Er hat eine Schwester«, sagte Elinborg. »Und außerdem einen Vater, der noch lebt. Sie wurden selbstverständlich von seinem Tod benachrichtigt. Die Schwester hat ihn identifiziert.«
»Müssen wir nicht auch bei Wapshott eine Speichelprobe vornehmen lassen?«, fragte Sigurður Óli.
»Doch, natürlich, ich werde mich darum kümmern«, stimmte Erlendur zu.
Sigurður Óli machte sich daran, Informationen über Henry Wapshott einzuholen, Elinborg wollte ein Treffen mit Guðlaugurs Vater und Schwester arrangieren, und Erlendur machte sich auf den Weg zu dem Kabuff im Keller. Als er an der Rezeption vorbeikam und sah, dass der Empfangschef wieder im Dienst war, nahm er sich vor, später mit ihm zu reden.
In Guðlaugurs Schrank fand er die Schallplatten. Zwei kleine Platten. Auf der Vorderseite der einen stand: Guðlaugur singt das Ave Maria von Schubert. Das war die gleiche Platte, die Henry Wapshott Erlendur gezeigt hatte. Auf der anderen stand der Chorknabe vor einem kleinen Kinderchor. Der Dirigent, ein junger Mann, stand etwas seitlich.
Guðlaugur Egilsson als Solist, stand in großen Buchstaben quer über das Cover geschrieben.
Auf der Rückseite der Plattenhülle wurde kurz dargestellt, wer dieser viel versprechende junge Solist war.
Guðlaugur Egilsson hat verdientermaßen großes Aufsehen mit dem Kinderchor von Hafnarfjörður erregt, und man kann davon ausgehen, dass dieser Zwölfjährige eine glänzende Zukunft vor sich hat. Auf dieser seiner zweiten Schallplatte singt er mit seiner wunderschönen hellen Stimme unter der Leitung von Gabríel Hermannsson, dem Dirigenten des Kinderchors von Hafnarfjörður. Diese Aufnahme gehört in die Plattensammlung all derjenigen, die schöne Musik lieben. Hier stellt Guðlaugur Egilsson als Solist unumstößlich unter Beweis, dass er über herausragende Fähigkeiten verfügt. Er wird demnächst auf einer Konzertreise in ganz Skandinavien zu hören sein.
Ein Kinderstar, dachte Erlendur und schaute auf das Plakat mit der »kleinen Prinzessin« Shirley Temple. Was machst du hier?, fragte er das Plakat. Warum hat er dich aufbewahrt? Warum bist du das Einzige, was er hinterlässt? Er kramte sein Handy hervor.
»Marian«, sagte er, als abgehoben wurde.
»Ja«, sagte die Stimme am Telefon. »Bist du das?«
»Irgendwas Neues?«
»Hast du gewusst, dass dieser Guðlaugur als Kind Schallplatteneinspielungen gemacht hat?«
»Ich komme dem Ganzen gerade auf die Spur.«
»Die Firma, die sie herausgegeben hat, machte vor ungefähr zwanzig Jahren Pleite, und von ihr existiert eigentlich gar nichts mehr. Ein Mann namens Gunnar Hansson war der Besitzer und Geschäftsführer, GH-Schallplattenproduktion nannte sie sich. Er gab während der Hippie- und Beatleszeit allen möglichen Mist heraus, aber wie gesagt, das ging alles in die Hose.«
»Weißt du, was aus den Beständen geworden ist?«
»Den Beständen?«, sagte Marian Briem.
»Den Platten.«
»Sind wahrscheinlich in die Konkursmasse eingegangen.
Ist das nicht immer so bei Konkursverfahren? Ich habe mit Verwandten von diesem Gunnar gesprochen, er hat zwei Söhne. Die Firma hat nie sehr viel herausgegeben, und sie waren bass erstaunt, als ich danach gefragt habe. Niemand hat sich in den letzten Jahren nach der Firma erkundigt.
Gunnar starb in der Mitte der neunziger Jahre, und sie sagen, dass er außer Schulden nichts hinterlassen hätte.«
»Hier im Hotel ist ein Mann, der Platten mit Choraufnahmen sammelt, mit Knabenchören und Chorknaben.
Er hatte vor, sich mit Guðlaugur zu treffen, aber daraus wurde dann nichts. Ich überlege, ob diese alten Platten irgendeinen Wert haben. Wie kann ich das in Erfahrung bringen?«
»Unterhalte dich mit Sammlern«, sagte Marian. »Oder möchtest du, dass ich mich darum kümmere?«
»Ja ja, aber vielleicht noch etwas. Kannst du einen Mann namens Gabríel Hermannsson ausfindig machen, der in den siebziger Jahren den Kinderchor von Hamarfjörður geleitet hat? Wenn er noch lebt, steht er bestimmt im Telefonbuch. Ich habe hier eine Plattenhülle, da ist er auch drauf, und er scheint mir so Mitte dreißig zu sein. Falls er tot ist, ist es natürlich hoffnungslos.«