»Ich war komplett durcheinander«, sagte der Empfangschef zu Erlendur. »Ein Teil von mir wollte nach Hause laufen und alles vergessen. Und ein Teil von mir wollte zu ihr in die Wohnung.«
»Ich weiß, welcher Teil das war«, sagte Erlendur.
Sie standen im Treppenhaus eines modernen Mehrfamilienhauses vor der Tür zu ihrer Wohnung, und sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Sogar diese Bewegung kam ihm sinnlich vor. Die Tür öffnete sich, und sie trat ganz dicht an ihn heran. »Komm mit herein«, sagte sie, und ihre Hand berührte ihn im Schritt.
Er ging mit ihr hinein. Sie mixte Drinks für sie. Er setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie legte Musik auf und trat zu ihm mit dem Glas in der Hand und lächelte, sodass sich die schönen weißen Zähne hinter dem Lippenstift entblößten. Sie setzte sich zu ihm, stellte das Glas ab, fasste ihm an den Hosenbund und zog langsam den Reißverschluss herunter.
»Mir war … Das war … Sie verstand sich auf die unglaublichsten Dinge«, sagte der Empfangschef.
Erlendur schaute ihn an, ohne etwas zu sagen.
»Am nächsten Morgen wollte ich mich hinausschleichen, aber sie war auf der Hut. Ich hatte Gewissensbisse, ich fühlte mich wie das Letzte, meine Frau und die Kinder betrogen zu haben. Diese Frau wollte ich nie wieder treffen. Sie lag hellwach da, als ich im Dunkeln durch das Zimmer tappte.«
Sie richtete sich halb im Bett auf und knipste die Nachttischlampe an. »Gehst du schon?«, fragte sie. Er sagte Ja, es sei schon viel zu spät. Eine wichtige Besprechung, etwas in der Art.
»Hat dir diese Nacht nicht gefallen?«, fragte sie.
Er hielt seine Hose in der Hand und schaute sie an.
»Phantastisch«, sagte er, »aber da kann nichts zwischen uns werden. Ich kann das einfach nicht. Entschuldige.«
»Ich kriege achtzigtausend Kronen von dir«, sagte sie so ruhig, als sei das vollkommen selbstverständlich und bräuchte eigentlich kaum extra erwähnt zu werden.
Er starrte sie an, als hätte er nicht richtig gehört.
»Achtzigtausend«, wiederholte sie.
»Was meinst du eigentlich?«
»Für die Nacht«, sagte sie.
»Für die Nacht?«, sagte er. »Willst du damit sagen, dass du dich verkaufst?«
»Was hast du denn gedacht?«, sagte sie.
Er begriff überhaupt nicht, was sie sagte.
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du Frauen wie mich umsonst kriegst?«, sagte sie.
Nach und nach dämmerte es ihm, was sie eigentlich meinte.
»Aber du hast überhaupt nichts gesagt!«
»Hätte ich etwas sagen müssen? Bezahl mir die achtzigtausend, und dann darfst du vielleicht irgendwann noch mal wieder zu mir kommen.«
»Ich habe mich geweigert zu zahlen«, sagte der Empfangschef zu Erlendur. »Bin einfach raus. Sie war stinkwütend.
Rief mich hier in der Arbeit an und drohte damit, zu Hause anzurufen, falls ich nicht bezahlen würde.«
»Wie heißen die noch?«, fragte Erlendur. »Irgendein englisches Wort. Date. Date-Nutten? War sie eine von denen? Meinst du das?«
»Ich habe keine Ahnung, was sie war, aber sie wusste genau, was sie tat, und zum Schluss rief sie bei meiner Frau an und sagte ihr, was passiert ist.«
»Warum hast du nicht einfach bezahlt? Dann wärst du sie losgewesen.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob ich sie losgewesen wäre, selbst wenn ich bezahlt hätte«, sagte der Empfangschef.
»Meine Frau und ich haben gestern alles durchgesprochen. Ich habe ihr alles gesagt, was passiert ist, genau wie dir. Wir sind seit dreiundzwanzig Jahren zusammen, und natürlich gibt es keine Entschuldigung für mein Verhalten, aber es war eine Falle, oder jedenfalls bin ich der Ansicht.
Falls diese Frau nicht hinter dem Geld her gewesen wäre, wäre nichts vorgefallen.«
»Dann war es also einzig und allein ihre Schuld?«
»Nein, natürlich nicht, aber trotzdem … das war eine Falle.«
Sie schwiegen.
»Gibt es so etwas auch hier im Hotel?«, fragte Erlendur.
»Date-Nutten?«
»Nein«, sagte der Empfangschef.
»Das würde dir nicht entgehen?«
»Ich habe gehört, dass du danach gefragt hast. So etwas gibt es hier nicht.«
»Genau«, sagte Erlendur.
»Du wirst das für dich behalten?«
»Ich brauchte den Namen dieser Frau, wenn du ihn weißt. Und die Adresse. Das bleibt unter uns.«
Der Empfangschef zögerte.
»Diese verfluchte Schlampe«, sagte er und fiel einen Augenblick aus der Rolle des zuvorkommenden Hoteliers.
»Hast du vor, das zu bezahlen?«
»Darin waren meine Frau und ich uns einig. Die kriegt keine müde Krone.«
»Glaubst du, dass jemand dir eins auswischen will?«
»Mir eins auswischen«, echote der Empfangschef. »Ich verstehe dich nicht. Was meinst du damit?«
»Ich meine, ob es sein kann, dass jemand dir so übel gesonnen ist, dass er so etwas arrangieren würde, um dich in Schwierigkeiten zu bringen? Jemand, mit dem du dich angelegt hast?«
»Das wäre mir nie im Traum eingefallen. Du meinst, dass ich irgendwelche Feinde habe, die mir so was antun würden?«
»Es brauchen gar keine Feinde zu sein. Irgendwelche Witzbolde, beispielsweise deine Freunde.«
»Nein, solche Freunde habe ich nicht. Und der Witz wäre wohl auch mehr als zu weit gegangen — da hört der Spaß doch wirklich auf.«
»Hast du dem Weihnachtsmann gekündigt?«
»Was meinst du damit?«
»Hast du ihm das mitgeteilt? Oder wurde ihm ein Brief geschickt, oder was?«
»Ich habe es ihm mündlich mitgeteilt.«
»Und wie hat er es aufgenommen?«
»Es war ziemlich hart für ihn. Verständlicherweise. Er hat lange hier gearbeitet, viel länger als ich beispielsweise.«
»Hätte er möglicherweise dahinter stecken können, falls jemand dahinter steckt?«
»Guðlaugur? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Guðlaugur? So was einfädeln? Das glaube ich nicht. Der war absolut nicht für Scherze irgendwelcher Art zu haben.«
»Hast du gewusst, dass er früher ein Kinderstar gewesen ist?«
»Ein Kinderstar? Inwiefern?«
»Er hat Platten besungen. Ein Chorknabe.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte der Empfangschef.
»Nur eins zum Schluss«, sagte Erlendur und stand auf.
»Ja«, sagte der Empfangschef.
»Kannst du dafür sorgen, dass ich einen Plattenspieler auf mein Zimmer bekomme?«, bat Erlendur und sah, dass der Empfangschef sich fragte, was das nun wieder sollte.
Als Erlendur ins Foyer kam, sah er den Leiter der Spurensicherung die Kellertreppe heraufkommen.
»Wie sieht es aus mit dem Speichel, den ihr an dem Kondom gefunden habt? Gibt’s was Neues? Habt ihr schon das Kortisol untersucht?«
»Wir sind dabei. Was verstehst du von Kortisol?«
»Zumindest weiß ich, dass es unter Umständen gefährlich sein kann, wenn zu viel davon im Speichel vorhanden ist.«
»Sigurður Óli hat nach der Mordwaffe gefragt«, sagte der Abteilungsleiter. »Der Gerichtsmediziner glaubt, dass es kein besonderes Messer gewesen ist. Nicht sehr lang, mit schmaler, geriffelter Klinge.«
»Also kein Jagdmesser oder Fleischmesser?«
»Nein, eher ein ziemlich gewöhnliches Messer, wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte der Abteilungsleiter. »Ein ganz gewöhnliches Messer.«
Zehn
Erlendur nahm die beiden Platten aus Guðlaugurs Kammer mit auf sein Zimmer und rief von dort im Krankenhaus an, um nach Valgerður zu fragen. Er wurde zu ihrer Abteilung weiterverbunden. Eine andere Frau war am Apparat. Er fragte ein weiteres Mal nach Valgerður, und die Frau sagte »Augenblick, bitte«, und endlich kam Valgerður an den Apparat.