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»Oh, viel mehr als nur eine schöne Stimme. Viel, viel mehr als das. Er hatte eine einzigartige Stimme, dieser Junge.«

»Wie haben Sie von Guðlaugur Egilsson erfahren?«

»Durch Menschen mit denselben Interessen wie ich. Schallplattensammler spezialisieren sich, aber das habe ich Ihnen, glaube ich, bereits gestern gesagt. Nehmen wir Chormusik, in dem Bereich können sich Sammler auf bestimmte Bereiche konzentrieren, beispielsweise bestimmte Lieder oder bestimmte Arrangements oder auch nur bestimmte Chöre. Oder andere, wie ich, auf Chorknaben. Einige sammeln nur Chorknaben auf den alten 78er Schellackplatten, andere sammeln Singles mit 45 Umdrehungen, aber nur von einer bestimmten Schallplattenfirma. Man kann sich endlos spezialisieren. Manche sammeln ausschließlich sämtliche Aufnahmen eines bestimmten Lieds, bespielsweise Stormy Weather, das kennen Sie bestimmt. Nur damit Sie verstehen, um was es geht. Von Egilsson habe ich durch eine Gruppe japanischer Sammler erfahren, die eine umfangreiche Informations- und Tauschbörse im Internet betreiben. Niemand sammelt so viel westliche Musik wie die Japaner. Die reisen um die ganze Welt und kaufen wie die Staubsauger alles auf, was auf Platten herausgegeben wurde und ihnen in die Finger kommt. Besonders aus der Beatles- und Hippiezeit. Sie sind auf allen Plattenbörsen bekannt wie die bunten Hunde, und das Beste ist, dass sie Geld haben.«

Erlendur überlegte, ob man an der Bar rauchen durfte und beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Als Wapshott sah, dass er sich eine Zigarette anzünden wollte, holte er selber eine zerknitterte Packung Chesterfield hervor, Erlendur gab ihm Feuer.

»Meinen Sie, dass man hier rauchen darf?«, fragte Wapshott.

»Das wird sich herausstellen«, sagte Erlendur.

»Die Japaner besaßen ein Exemplar von Egilssons kleiner Platte«, sagte Wapshott. »Die, die ich Ihnen gestern Abend gezeigt habe. Ich habe sie ihnen abgekauft. Unheimlich teuer, aber ich bereue es nicht. Als ich danach fragte, wo sie die Platte herhätten, bekam ich zu hören, dass dieses Exemplar von einem norwegischen Sammler aus Bergen auf einem Schallplattenmarkt in Liverpool gekauft worden war. Ich konnte mich mit dem norwegischen Sammler in Verbindung setzen, und es stellte sich heraus, dass er sie aus dem Nachlass eines Plattenproduzenten in Trondheim erstanden hatte. Dem war ein Exemplar aus Island zugeschickt worden, vielleicht von jemandem, der den Jungen international bekannt machen wollte.«

»Was für ein Aufwand wegen einer einzigen alten Schallplatte«, sagte Erlendur.

»Sammler sind Experten. Es gehört einfach zum Spaß dazu, die Ursprünge herauszufinden. Seitdem habe ich versucht, mehr von diesen Platten zu kaufen, aber das war leichter gesagt als getan. Es existieren nur zwei Platten, auf denen er zu hören ist.«

»Sie haben mir gesagt, dass Sie die Platte den Japanern für teures Geld abgekauft haben. Sind solche Platten etwas wert?«

»Nur für Sammler«, sagte Wapshott. »Und hier ist nicht die Rede von besonders hohen Summen.«

»Aber doch von solchen, dass es sich für Sie lohnt, nach Island zu kommen, um mehr davon zu erwerben. Deswegen wollten Sie Guðlaugur doch treffen. Um herauszufinden, ob er noch mehr Exemplare besitzt.«

»Ich stehe seit einiger Zeit mit ein paar isländischen Sammlern in Verbindung. Schon bevor ich Interesse an den Platten mit Egilsson bekam. Leider gibt es aber keine Schallplatten mehr mit ihm. Die isländischen Sammler haben nichts auftreiben können. Möglicherweise kann ich ein Exemplar über eine Internet-Verbindung aus Deutschland bekommen. Ich bin nach Island gekommen, um diese Sammler und Guðlaugur Egilsson zu treffen, weil ich seinen Gesang bewundere. Und um hier den Markt auszuloten und Sammlerläden zu besuchen.«

»Und davon können Sie leben?«

»Wohl kaum«, sagte Wapshott und sog den Rauch der Chesterfield ein. Vom jahrzehntelangen Rauchen hatte er gelbe Finger. »Ich habe geerbt. Hausbesitz in London. Ich kümmere mich um die Verwaltung, aber den größten Teil meiner Zeit verbringe ich mit Sammeln. Man könnte es eine Passion nennen.«

»Und Sie sammeln Chorknaben.«

»Ja.«

»Sind Sie bei dieser Reise auf irgendetwas gestoßen?«

»Nein, nichts. Hierzulande scheint niemand Interesse daran zu haben, etwas aufzubewahren. Hier muss alles neu sein. Alles Alte gilt offenbar als Plunder, nichts ist es wert, aufgehoben zu werden. Meines Erachtens wird hier mit Schallplatten schlecht umgegangen. Die werden einfach weggeworfen, Schallplatten aus Nachlässen beispielsweise. Da wird noch nicht einmal jemand hinzugezogen, um sich die anzuschauen. Bloß auf die Müllkippe damit. Lange Zeit war ich der Meinung, dass ein Unternehmen hier in Reykjavik, das Sorpa heißt, ein Verein für Sammler wäre. Der Name kam nämlich immer wieder in der Korrespondenz vor. Dann stellte es sich heraus, dass es eine Recycling-Firma ist, die einen Gebrauchtwarenhandel betreibt. Sammler finden hier alle möglichen Kostbarkeiten im Müll und verkaufen sie übers Internet zu guten Preisen.«

»Ist Island besonders interessant für Sammler?«, fragte Erlendur. »So ganz generell gesehen.«

»Der größte Vorteil an Island ist die Übersichtlichkeit des Marktes. Jede Platte wird nur in einer geringen Auflage herausgegeben, und sie verschwindet ziemlich bald wieder vom Markt. Danach ist sie mehr oder weniger verloren. Wie die Platten von Guðlaugur Egilsson.«

»Es muss spannend sein, Sammler in einer Welt zu sein, die alles hasst, was alt und unnütz ist. Das muss doch irgendwie eine Befriedigung sein, wenn man davon überzeugt ist, Kulturschätze zu retten.«

»Ja, wir sind gewissermaßen so ein paar unverbesserliche Käuze, die versuchen, der Vernichtung Einhalt zu gebieten«, erklärte Wapshott.

»Aber man kann auch Geschäfte damit machen.«

»Das kann vorkommen.«

»Was passierte mit Guðlaugur Egilsson? Was wurde aus dem Kinderstar?«

»Was aus allen Kinderstars wird«, sagte Wapshott. »Er wurde erwachsen. Ich weiß eigentlich nicht so genau, was aus ihm geworden ist, aber als Jugendlicher oder als Erwachsener hat er nie wieder gesungen. Seine Gesangskarriere war schön, aber kurz, und dann verschwand er wieder in der Menge und hörte auf, etwas Besonderes oder Einzigartiges zu sein. Niemand hat ihm mehr zugejubelt, und vermutlich hat ihm das gefehlt. Es gehört viel Charakterstärke dazu, in so zartem Alter schon Ruhm und Bewunderung zu verkraften, und noch viel mehr, wenn die Leute einem später den Rücken zukehren.«

Wapshott schaute auf die Uhr, die über der Bar hing, dann auf seine Armbanduhr und räusperte sich.

»Ich wollte die Abendmaschine nach London nehmen, und ich muss noch einiges erledigen, bevor ich aufbreche. Wollen Sie noch mehr von mir wissen?«

Erlendur blickte ihn an.

»Nein, ich glaube, das war’s. Ich dachte, Sie wollten erst morgen fliegen?«

»Falls ich Ihnen noch mit irgendetwas behilflich sein kann, hier ist meine Visitenkarte«, sagte Wapshott, zog eine kleine Karte aus der Brusttasche und reichte sie Erlendur.

»Sie haben den Flug geändert?«, fragte Erlendur.

»Nachdem ich ihn jetzt nicht mehr treffen kann«, sagte Wapshott, »habe ich das meiste, was ich vorhatte, erledigt, und damit spare ich mir eine Nacht im Hotel.«

»Nur eine Sache noch«, sagte Erlendur.

»Ja.«

»Nachher kommt eine Laborantin und entnimmt Ihnen eine Speichelprobe, falls Sie keine Einwände haben.«

»Eine Speichelprobe?«

»Ja, wegen der Ermittlung.«

»Wieso denn Speichelprobe?«

»Das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.«

»Stehe ich unter Verdacht?«

»Wir nehmen Speichelproben von allen, die Guðlaugur gekannt haben. Das steht im Zusammenhang mit der Ermittlung. Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun.«