Ösp zuckte mit den Achseln.
»Wer hat bei ihm die Bettwäsche gewechselt?«
»Wie meinst du das?«
»Die Bettwäsche. Die ist schon lange nicht mehr gewechselt worden.«
»Ich weiß nicht. Bestimmt er selber.«
»Es muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.«
»Der Anblick war ekelhaft«, sagte Ösp.
»Ich weiß«, sagte Erlendur. »Versuch irgendwie, das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen. Wenn du kannst. War er gut als Weihnachtsmann?«
Das Mädchen schaute ihn an.
»War er?«
»Ich glaube nicht an Weihnachtsmänner.«
Die Frau, die die Weihnachtsfeier arrangiert hatte, war adrett gekleidet, klein und um die dreißig, vermutete Erlendur. Sie stellte sich als Marketing- und PR-Beauftragte des Hotels vor, und Erlendur hatte keine Lust, sie über ihren Job zu befragen; fast alle, die man heutzutage traf, waren irgendwas mit Marketing. Sie hatte ein Büro im Erdgeschoss, wo Erlendur sie am Telefon vorgefunden hatte.
Die Medien hatten Witterung davon bekommen, dass in dem Hotel etwas nicht stimmte, und Erlendur vermutete, dass sein Gegenüber gerade dabei war, einem Journalisten irgendeine Geschichte aufzutischen. Das Gespräch endete sehr abrupt. Die Frau wimmelte den Anrufer ab und erklärte kategorisch, dass er sich auf keinen Fall auf sie beziehen dürfe.
Erlendur nannte seinen Namen und schüttelte ihre kühle Hand. Er fragte, wann sie zuletzt mit, ähem, mit dem Mann im Keller gesprochen hätte. Er wusste nicht, ob er ihn ›den Portier‹ nennen sollte — oder ›den Weihnachtsmann‹, den Namen des Mannes hatte er vergessen. ›Weihnachtsmann‹ fand er eigentlich unpassend. Wenn schon, dann war Sigurður Óli hier der Weihnachtsmann — auch wenn er nie ein Kostüm anhatte.
»Guðlaugur?«, sagte sie und löste sein Problem. »Das war heute Morgen, weil ich ihn an die Weihnachtsfeier erinnern wollte. Ich traf ihn bei der Drehtür. Er war im Dienst.
Er war Portier hier im Hotel, wie du vielleicht weißt. Und vielleicht sogar mehr als Portier, eigentlich Hausmeister.
Hat alles Mögliche repariert und so.«
»Hilfsbereit?«, fragte Erlendur.
»Wie bitte?«
»Freundlich und hilfsbereit, meine ich, oder musste man ständig hinter ihm her sein?«
»Das weiß ich nicht. Spielt es eine Rolle? Für mich hat er nie etwas gemacht. Oder besser gesagt, ich brauchte ihn nie in Anspruch zu nehmen.«
»Weswegen spielte er den Weihnachtsmann? War er kinderlieb? Komisch? Lustig?«
»Das war schon so, als ich hier angefangen habe. Ich arbeite seit drei Jahren hier, und dies ist die dritte Weihnachtsfeier, die ich organisiere. Er hat auch bei den anderen beiden den Weihnachtsmann gespielt, aber halt auch schon davor. Er war ganz in Ordnung. Die Kinder hatten ihren Spaß mit ihm.«
Sie machte nicht den Eindruck, als würde ihr Guðlaugurs Tod in irgendeiner Form nahe gehen. Er ging sie nichts an.
Es ging einzig und allein darum, dass der Mord die Marketing und PR-Angelegenheiten durcheinander zu bringen drohte. Erlendur wunderte sich, wie man so gefühlskalt und langweilig sein konnte.
»Aber was für ein Mensch war er?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich habe ihn nie richtig kennen gelernt. Er war Portier. Und Weihnachtsmann. Das waren eigentlich die einzigen Male, wo ich mit ihm gesprochen habe. In seiner Rolle als Weihnachtsmann.«
»Was ist aus der Weihnachtsfeier geworden? Als sich herausstellte, dass der Weihnachtsmann tot war?«
»Wir haben sie abgeblasen. Was anderes konnten wir nicht machen. Auch aus Pietätsgründen«, fügte sie hinzu, als wolle sie endlich eine Spur Mitgefühl zeigen. Es war nicht sehr überzeugend. Erlendur sah es ihr an, dass ihr die Leiche im Keller vollkommen egal war.
»Wer hat diesen Mann am besten gekannt?«, fragte er. »Hier im Hotel, meine ich.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sprich doch mal mit dem Empfangschef. Der Portier unterstand ihm.«
Das Telefon auf ihrem Tisch klingelte, sie nahm den Hörer ab und schaute Erlendur an, als ob er ihr im Wege sei. Der stand auf, verließ das Zimmer und dachte bei sich, dass sie nicht endlos anderen am Telefon etwas vorlügen konnte.
Der Empfangschef hatte absolut keine Zeit, um sich mit Erlendur zu befassen. Die Touristen scharten sich um den Rezeptionstisch. Er und drei weitere Hotelangestellte nahmen die ausgefüllten Formulare entgegen, und Erlendur beobachtete, wie sie im Computer registrierten, Pässe kontrollierten, Schlüssel aushändigten, lächelten, um sich danach gleich dem nächsten Gast zuzuwenden. Das Gedränge reichte bis zur Drehtür. Durch sie hindurch sah Erlendur draußen noch einen weiteren Bus vorfahren und vor dem Hotel halten.
Die in der Mehrzahl nicht uniformierten Polizisten waren über das ganze Gebäude verteilt und vernahmen das Personal. In der Kantine im Keller war so etwas wie eine Außenstelle der Polizei eingerichtet worden, von wo aus die Ermittlung geleitet wurde.
Erlendur betrachtete die Weihnachtsdekoration eingehend. Aus der Lautsprecheranlage ertönte ein amerikanisches Weihnachtslied. Er schlenderte in den großen Speisesaal, der hinter dem Foyer lag. Da hatten sich bereits die ersten Gäste zu einem opulenten Weihnachtsbüfett eingefunden. Er spazierte an der Tafel entlang und ließ seinen Blick über Lachs, geräuchertes Lammfleisch, kalten Schweinebraten und Rinderzunge mit den entsprechenden Beilagen wandern und betrachtete die köstlichen Nachspeisen, Eis, Sahnetorten und Mousse au Chocolat, oder was das alles sein mochte.
Erlendur lief das Wasser im Munde zusammen. Er hatte den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen.
Er blickte sich rasch um und ließ blitzschnell eine Scheibe von der delikaten Rinderzunge in seinem Mund verschwinden. Er war überzeugt, dass ihn niemand beobachtet hatte, deswegen machte sein Herz einen Satz, als eine scharfe Stimme hinter ihm ertönte.
»Also hör mal, so geht es nun wirklich nicht. Das ist nicht gestattet!«
Erlendur drehte sich um, und ein Mann mit einer ausladenden Küchenchefmütze auf dem Kopf trat mit finsterer Miene dicht an ihn heran.
»Was soll das heißen, hier am Büfett sich einfach was mit den Fingern in den Mund zu stopfen? Was sind das denn für Sitten?«
»Reg dich ab«, sagte Erlendur und nahm sich einen Teller. Er begann, sich diverse Köstlichkeiten aufzuladen, als hätte er genau das von vornherein vorgehabt.
»Hast du den Weihnachtsmann gekannt?«, fragte er, um von der Rinderzunge abzulenken.
»Den Weihnachtsmann?«, sagte der Koch. »Was für einen Weihnachtsmann? Ich wollte dir nur sagen, dass du das Essen nicht mit den Pfoten anrührst. Das gehört …«
»Guðlaugur«, unterbrach Erlendur ihn. »Hast du ihn gekannt? Er war auch Portier und dann wohl auch so was wie ein Faktotum hier im Hotel, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Du meinst Gulli?«
»Ja, Gulli, wenn das sein Spitzname war«, sagte Erlendur und legte eine ordentliche Scheibe kalten Schinken mit etwas Joghurtsauce auf seinen Teller. Er überlegte, ob er Elinborgs Meinung zu diesem Büfett einholen sollte, sie verstand wirklich etwas von guter Küche und sammelte schon seit Jahren Rezepte für ein Kochbuch.
»Nein, ich …, was meinst du mit ›Hast du ihn gekannt!?«, fragte der Koch.
»Du weißt also noch nichts davon?«
»Wovon? Was ist eigentlich los?«
»Er ist tot. Ermordet. Hat sich das noch nicht im Hotel herumgesprochen?«
»Ermordet?«, ächzte der Koch. »Ermordet! Was, hier im Hotel? Und wer bist du eigentlich?«
»In seinem Kabuff da unten im Keller. Ich bin von der Polizei.«
Erlendur lud sich weitere Köstlichkeiten auf den Teller.
Der Koch hatte die Rinderzunge vergessen.
»Wie wurde er ermordet?«
»Dazu kann ich nichts sagen.«