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Elinborg stand vor dem Raum des Ermordeten und sah den Leuten von der Spurensicherung bei der Arbeit zu, als Sigurður Óli in dem dunklen Gang auftauchte.

»Wo ist Erlendur?«, fragte sie und leerte die Erdnusstüte.

»Beim Weihnachtsbüfett«, schnaubte Sigurður Óli.

Ein provisorischer Labortest, der später am Abend durchgeführt wurde, ergab, dass das ganze Kondom voller Speichelreste war.

Drei

Die Spurensicherung hatte sich mit Erlendur in Verbindung gesetzt, sobald sich herausgestellt hatte, dass man den genetischen Fingerabdruck hatte. Erlendur befand sich immer noch im Hotel. Der Tatort glich zeitweilig einem Fotostudio. Blitze beleuchteten den dunklen Gang in regelmäßigen Abständen. Die Leiche wurde aus allen Perspektiven fotografiert, ebenso all die Gegenstände, die in Guðlaugurs Zimmer waren. Der Tote wurde anschließend in das Leichenschauhaus am Barónsstígur gebracht. Das Zimmer des Portiers war auf Fingerabdrücke untersucht worden, von denen eine ganze Menge zutage kamen. Sie wurden jetzt mit dem Fingerabdruckarchiv der Polizei verglichen. Fingerabdrücke wurden vom gesamten Personal genommen. Diese Mitteilung aus dem Labor bedeutete außerdem, dass von allen Speichelproben entnommen werden mussten.

»Aber was ist mit den Hotelgästen?«, fragte Elinborg.

»Müssen wir das nicht auch bei denen machen?«

Sie sehnte sich danach, ihre Schicht zu beenden und nach Hause zu kommen; sie bereute es, gefragt zu haben. Elinborg feierte Weihnachten ausgiebig und genoss es, die ganze Familie um sich zu haben. Sie dekorierte ihr Zuhause mit Zweigen und Flitterkram, backte viele Sorten köstlicher Plätzchen, die sie in sorgfältig beschrifteten Tupperdosen aufbewahrte. Ihr weihnachtliches Festessen genoss auch außerhalb der Familie einen legendären Ruf. Das Hauptgericht war jedes Jahr ein schwedischer Weihnachtsschinken, den sie zwölf Tage auf ihrem Balkon in einer Marinade ziehen ließ und mit so viel Hingabe umsorgte, als wäre es das in Windeln gewickelte Jesuskind.

»Ich glaube, dass wir davon ausgehen können — das ist jedenfalls mein Eindruck —, der Mörder ist Isländer«, sagte Erlendur. »Die Hotelgäste können wir erst mal hintanstellen. Das Hotel ist jetzt zu Weihnachten voll und kaum jemand reist ab. Wir knöpfen uns natürlich diejenigen vor, die vorhaben abzureisen, von ihnen nehmen wir Speichelproben und auch Fingerabdrücke. Wir können jedoch nicht verhindern, dass sie das Land verlassen, da müsste schon ein sehr starker Tatverdacht gegen sie vorliegen. Und wir brauchen eine Liste über diejenigen Ausländer, die sich zum Zeitpunkt des Mordes im Hotel befanden, die später Angekommenen können wir beiseite lassen. Versuchen wir, das Ganze möglichst umkompliziert anzugehen.«

»Aber wenn die Sache nicht so unkompliziert ist?«, fragte Elinborg.

»Ich glaube nicht, dass irgendeiner von den Hotelgästen weiß, dass hier ein Mord verübt wurde«, warf Sigurður Óli ein, der ebenfalls nach Hause wollte. Seine Frau Bergþóra hatte ihn am späten Nachmittag angerufen und gefragt, ob er nicht bald käme. Jetzt sei genau der richtige Augenblick, und sie würde ihn erwarten. Sigurður Óli wusste sofort, was mit dem richtigen Augenblick gemeint war. Sie versuchten, ein Kind zu bekommen, aber es wollte einfach nicht klappen. Sigurður Óli hatte Erlendur erzählt, dass sie eine künstliche Befruchtung in Erwägung gezogen hätten.

»Musst du dann so ein Röhrchen abgeben?«, hatte Erlendur gefragt.

»Röhrchen?«

»So ein Reagenzglas, meine ich. Morgens.«

Sigurður Óli hatte Erlendur angestarrt, bis ihm endlich aufging, was Erlendur meinte.

»Ich hätte dir das nie erzählen sollen«, war seine genervte Reaktion gewesen.

Erlendur nippte an einem scheußlich schmeckenden Kaffee. Sie saßen zu dritt im Kaffeeraum fürs Personal im Keller. Die Hauptaktion war beendet, die Polizisten und die Leute von der Spurensicherung waren weg, das Zimmer war versiegelt worden. Erlendur hatte keine Eile. Das Einzige, wohin er sich zurückziehen konnte, war seine dunkle Wohnung in einem anonymen Wohnblock, wo er mit sich selbst allein war. Weihnachten bedeutete ihm nichts.

Er bekam ein paar Tage frei, mit denen er nichts anfangen konnte. Seine Tochter würde ihn vielleicht besuchen, um geräuchertes Lammfleisch zu kochen. Manchmal brachte sie auch ihren Bruder mit. Und Erlendur saß herum und las, aber das machte er sowieso immer.

»Ihr solltet zusehen, dass ihr nach Hause kommt«, sagte er.

»Ich werde noch ein bisschen bleiben. Mal sehen, ob ich es schaffe, mit diesem Empfangschef zu sprechen, der absolut unabkömmlich zu sein scheint.«

Elinborg und Sigurður Óli standen auf.

»Und was ist mir dir?«, fragte Elinborg. »Willst du nicht auch einfach nach Hause gehen? Weihnachten steht vor der Tür und …«

»Was ist eigentlich mit euch beiden los? Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?«

»Es ist Weihnachten«, sagte Elinborg seufzend. Sie zögerte.

»Ach, vergiss es«, sagte sie dann. Sie und Sigurður Óli drehten sich um und verließen den Raum.

Erlendur saß eine Weile nachdenklich da. Er dachte an Sigurður Ólis Frage, wo er zu Weihnachten sein würde.

Und jetzt auch noch Elinborgs Fürsorglichkeit! Er sah im Geiste seine Wohnung vor sich, den Sessel, den klapprigen Fernseher und die Bücher, mit denen die Wände voll gestellt waren.

Manchmal kaufte er sich zu Weihnachten eine Flasche Chartreuse und hatte ein Glas neben sich stehen, während er über Gefahren und Bergkatastrophen vergangener Zeiten las, wo die Menschen mangels anderer Transportmittel zu Fuß von einem Ort zum anderen gehen mussten und die Weihnachtszeit besonders gefahrvoll war. Die Leute ließen sich durch nichts abhalten, zu Weihnachten zu ihren Liebsten zu gelangen, sie kämpften gegen die Naturgewalten an, verirrten sich in tobenden Schneestürmen und kamen um, und für die Daheimgebliebenen verwandelte sich das Fest der Geburt des Erlösers in einen Albtraum. Einige wurden gefunden. Andere nicht. Wurden nie gefunden.

Das waren Erlendurs Weihnachtsgeschichten.

Der Empfangschef hatte das zur Livree gehörige Jackett ausgezogen und war schon im Mantel, als Erlendur ihn in der Garderobe antraf. Der Mann erklärte, todmüde zu sein und nach Hause zu seiner Familie zu wollen, wie alle anderen auch. Er hatte von dem Mord gehört, ja, schrecklich, er wusste aber nicht, was er dazu beitragen konnte.

»Wenn ich richtig verstehe, hast du ihn hier im Hotel mithin am besten gekannt«, sagte Erlendur.

»Nein, das ist nicht richtig«, sagte der Empfangschef und wickelte sich einen dicken Schal um den Hals. »Wer hat dir das gesagt?«

»Er unterstand aber doch dir, oder?«, fragte Erlendur und umging die Frage.

»Unterstand mir, ja, wahrscheinlich. Er war Portier, ich bin für die Rezeption zuständig, die Registration, das weißt du vielleicht. Weißt du, wie lange die Geschäfte heute Abend offen haben?«

Er schien nicht das geringste Interesse für Erlendur und seine Fragen zu haben. Erlendur ging das auf die Nerven. Außerdem ging ihm auf die Nerven, dass das Schicksal des Mannes im Keller augenscheinlich allen völlig egal war.

»Wahrscheinlich rund um die Uhr, ich weiß es nicht. Wer könnte wohl ein Interesse daran gehabt haben, deinen Portier zu erstechen?«

»Meinen? Er war nicht mein Portier. Er war der Portier des Hotels.«

»Und warum hatte er die Hosen runtergelassen und hatte ein Kondom am Schwanz? Wer ist bei ihm gewesen? Wer kam überhaupt zu Besuch bei ihm? Hatte er irgendwelche Freunde hier im Hotel? Hatte er irgendwelche Feinde? Weswegen wohnte er hier im Hotel? Was war da mit ihm vereinbart worden? Was hast du eigentlich zu verbergen? Warum kannst du mir nicht ganz normal antworten?«