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»Er wagte sich von einer Landspitze aus hinaus auf den zugefrorenen Fjord, um einen Hai zu holen, der tags zuvor in einer Wake gefangen worden war. Urplötzlich schlug das Wetter um, Sturm und Regen aus dem Süden ließen das Eis aufbrechen und nach Norden wegtreiben. Wegen des Orkans war es nicht möglich, Jón mit einem Boot zurückzuholen, und das Eis trieb aus dem Fjord hinaus.

Jón war nur noch durchs Fernglas zu erkennen, wie er auf einer Eisscholle am Meereshorizont hin und her lief, und das war das Letzte, was man von ihm sah.«

Neunundzwanzig

Die ruhige Barmusik hatte einschläfernde Wirkung auf sie, und sie saßen schweigend da, bis Valgerður sich vorbeugte und seine Hand ergriff.

»Am besten gehe ich jetzt«, sagte sie.

Erlendur nickte, und sie standen auf. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und stand einen Augenblick dicht bei ihm.

Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass Eva Lind in die Bar gekommen war und zu ihnen herüberstarrte. Sie sah, wie sie aufstanden, sah, wie sie ihn küsste und sich an ihn zu schmiegen schien. Eva Lind gab sich einen Ruck und ging rasch zu ihnen hin.

»Was ist denn das für eine verdammte Tussi?«, fragte Eva Lind und musterte Valgerður abschätzig.

»Eva«, sagte Erlendur barsch. Evas plötzlicher Auftritt in der Bar hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. »Benimm dich gefälligst anständig.«

Valgerður streckte ihre Hand aus. Eva Lind starrte darauf, und dann schaute sie Valgerður ins Gesicht und wieder auf die Hand. Erlendur sah von Valgerður zu Eva Lind und schien sie mit seinen Blicken durchbohren zu wollen.

»Das ist Valgerður, sie ist eine gute Freundin von mir«, sagte er.

Eva Lind schaute auf ihren Vater und dann auf Valgerður, aber sie nahm die ausgestreckte Hand nicht. Valgerður lächelte verlegen und drehte sich auf dem Absatz um.

Erlendur ging hinter ihr her und schaute ihr nach, wie sie das Foyer durchquerte. Eva Lind kam zu ihm.

»Was geht hier eigentlich ab?«, fragte sie. »Hast du angefangen, hier in der Bar Weiber aufzureißen?«

»Jetzt reicht’s aber mit deinen Unverschämtheiten«, schnauzte Erlendur sie an. »Was fällt dir ein, dich so zu benehmen? Das geht dich überhaupt nichts an. Lass mich zum Kuckuck noch mal in Ruhe!«

»Ach so! Du kannst dich von morgens früh bis abends spät in meinen Kram einmischen, aber ich darf nicht mal wissen, mit wem du hier im Hotel herumvögelst?«

»Jetzt ist Schluss. Was fällt dir eigentlich ein, in dieser ordinären Sprache mit mir zu reden!«

Eva Lind verstummte und schaute ihren Vater wütend an.

Er starrte bitterböse zurück.

»Was zum Teufel willst du von mir?«, schrie er sie an und lief dann hinter Valgerður her. Sie war schon aus dem Hotel heraus, und durch die Drehtür sah er, wie sie in ein Taxi stieg. Als er nach draußen kam, sah er nur noch, wie sich die roten Rücklichter des Autos entfernten und schließlich um die Ecke bogen.

Erlendur fluchte innerlich, als er hinter dem Taxi herschaute. Er hatte keine Lust, wieder in die Bar zu gehen, wo Eva Lind auf ihn wartete. In Gedanken versunken stieg er die Treppe in den Keller hinunter und stand auf einmal wieder auf dem dunklen Gang. Er fand einen Schalter und machte Licht, und die wenigen Birnen, die noch intakt waren, gaben dem Gang eine gespenstische Beleuchtung.

Er ging zu Guðlaugurs Kammer, öffnete die Tür und knipste das Licht an. Das Plakat mit Shirley Temple starrte ihm entgegen.

The Little Princess.

Er hörte leichte Schritte auf dem Gang und wusste, wer da kam, noch bevor Eva Lind in der Tür auftauchte.

»Die da oben hat mir gesagt, sie hätte gesehen, wie du in den Keller gegangen bist«, sagte Eva und schaute in das Zimmer. Ihre Augen blieben an den Blutflecken auf dem Bett hängen. »Ist es hier passiert?«, fragte sie.

»Ja,« sagte Erlendur.

»Was für ein Plakat ist das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ich begreife nicht, wie du dich so aufführen kannst. Was fällt dir ein, sie eine Tussi zu nennen und ihr nicht die Hand zu geben? Sie hat dir nichts getan.«

Eva Lind schwieg.

»Du solltest dich was schämen.«

»Verzeih mir«, sagte Eva.

Erlendur antwortete nicht. Er stand da und starrte auf das Plakat. Shirley Temple in einem hübschen Sommerkleidchen und einer Schleife im Haar, sie lächelte in Technicolor.

The Little Princess. Produktionsjahr 1939, nach einer Erzählung von Frances Hodgson Burnett. Shirley Temple spielte ein munteres kleines Mädchen, dessen Vater ins Ausland ging und sie in den Händen einer unbarmherzigen Schulleiterin zurückließ. Sigurður Óli hatte den Film im Internet gefunden. Die Informationen über den Film sagten aber nichts darüber aus, weswegen Guðlaugur das Plakat bei sich aufgehängt hatte.

Die kleine Prinzessin, dachte Erlendur.

»Ich habe sofort an Mama gedacht«, sagte Eva Lind hinter ihm. »Als ich dich mit ihr in der Bar sah. Und an Sindri und mich, an denen du kein Interesse hattest. Habe an uns alle gedacht, an uns als Familie, denn egal, wie man die Sache auch angeht, wir sind trotz allem irgendwie eine Familie. Jedenfalls finde ich das.«

Sie verstummte.

Erlendur drehte sich zu ihr um.

»Ich kapiere diese Gleichgültigkeit nicht«, fuhr sie fort.

»Vor allem, was Sindri und mich betrifft. Ich raff es einfach nicht. Und du hilfst mir auch nicht gerade weiter. Willst nie über was reden, was dich betrifft. Redest nie über was. Sagst nie was. Man könnte genauso gut mit einer Wand reden.«

»Weswegen brauchst du für alles eine Erklärung?«, sagte Erlendur. »Für einige Dinge gibt es einfach keine Erklärung. Einiges braucht man nicht zu erklären.«

»Das sagt ausgerechnet der Cop!«

»Die Leute reden zu viel«, sagte Erlendur. »Man sollte mehr schweigen, dann würde man sich auch keine Blöße geben.«

»Du redest von Verbrechern. Du denkst immer bloß an Kriminelle. Wir sind deine Familie!«

Sie schwiegen.

»Wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht«, sagte Erlendur schließlich. »Nicht, was deine Mutter betrifft, glaube ich. Oder doch, es kann auch etwas sein, was deine Mutter betrifft. Ich weiß es nicht. Die Leute lassen sich doch andauernd scheiden, und für mich war es unerträglich, mit ihr zusammenzuleben. Aber was dich und Sindri betrifft, das war falsch. Mir ist das wahrscheinlich erst klar geworden, als du mich aufgespürt und angefangen hast, mich zu besuchen, und manchmal hast du sogar deinen Bruder mitgebracht. Ich habe mir einfach nicht klar gemacht, dass ich zwei Kinder besaß, zu denen ich die ganze Zeit keinerlei Verbindung hatte, und die es dann schon so jung aus der Bahn geworfen hat. Dann erst habe ich angefangen, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Tatsache, dass ich keinen Finger gerührt habe, etwas dazu beigetragen hat. Ich hatte eigentlich so gut wie nie darüber nachgedacht, warum das so war. Genau wie du.

Warum ich nicht vor Gericht gegangen bin, um für mein Umgangsrecht zu kämpfen. Um euch bei mir haben zu können. Oder versucht habe, mit eurer Mutter zu reden, um zu einem Kompromiss zu kommen. Oder euch nicht vor der Schule aufgelauert und mir einfach geschnappt habe.«

»Du hattest ganz einfach kein Interesse an uns«, sagte Eva Lind. »Geht es nicht darum?«

Erlendur schwieg.

»Geht es nicht darum?«, wiederholte Eva Lind.

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich wollte, es wäre so einfach.«

»Einfach? Was meinst du damit?«

»Ich glaube …«

»Was?«

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich glaube …«

»Ja.«

»Ich glaube, ich bin damals auch in den Bergen geblieben.«

»Als dein Bruder umgekommen ist?«

»Es ist schwierig, das zu erklären, und vielleicht ist es gar nicht möglich. Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich, alles zu erklären, und vielleicht gibt es einige Dinge, die am besten unerklärt bleiben.«