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»Würdest du ihm bitte ausrichten, dass ich gerne mit ihm sprechen möchte. Falls er da auf dem Flur im Keller etwas mitbekommen hat, muss ich das von ihm selber hören. Ich muss ihn auch nach seiner Beziehung zu Guðlaugur fragen. Ich muss wissen, ob er ihn an dem Tag, an dem Guðlaugur ermordet wurde, gesehen hat. Wirst du das für mich tun? Ihm sagen, dass ich ihn sprechen muss?«

»Glaubst du, dass er es getan hat? Guðlaugur umgebracht hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Falls ich nicht bald von ihm höre, lasse ich nach ihm fahnden.«

Ösp zeigte keinerlei Reaktion.

»Wusstest du, dass Guðlaugur schwul war?«

Ösp schaute hoch.

»Gemessen an dem, was mein Bruder mir gesagt hat, war er das. Und gemessen an der Tatsache, dass er meinen Bruder dafür bezahlt hat, es ihm zu besorgen …«

Ösp brach ab.

»Wusstest du, dass Guðlaugur tot war, als du zu ihm geschickt wurdest?«

Sie schaute ihn an.

»Nein, das wusste ich nicht. Versuch nicht, das auf mich zu schieben. Das versuchst du doch? Du glaubst, dass ich ihn umgebracht habe?«

»Du hast mir nichts von deinem Bruder da im Keller gesagt.«

»Er ist immer in Schwierigkeiten, aber ich weiß, dass er das nicht getan hat. Ich weiß, dass er niemals so etwas tun könnte. Niemals.«

»Zwischen euch muss ja wirklich ein gutes Verhältnis bestehen, wo du so gut auf ihn aufpasst.«

»Wir sind immer gute Freunde gewesen«, sagte Ösp und stand auf. »Ich werde mit ihm sprechen, wenn er sich meldet, und ihm sagen, dass du ihn sprechen musst, falls er was weiß über das, was passiert ist.«

Erlendur nickte und sagte, dass er im Verlauf des Tages im Hotel zu erreichen wäre.

»Es muss sofort sein, Ösp«, sagte er.

Einunddreißig

Als Erlendur wieder hinunter ins Foyer kam, sah er Elinborg an der Rezeption stehen. Der Empfangschef deutete in seine Richtung, und Elinborg drehte sich um. Sie hatte offenbar nach ihm gesucht und kam jetzt rasch mit einer mehr als sorgenvollen Miene auf ihn zu. So viel Kummer hatte sie selten ausgestrahlt.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte er, als sie sich näherte.

»Können wir uns vielleicht irgendwo setzen?«, sagte sie.

»Ist die Bar schon offen? Himmel, was ist das für ein mieser Job. Ich weiß nicht, wozu man sich damit abgibt.«

»Was ist denn los?«, fragte Erlendur, packte sie beim Arm und führte sie zur Bar. Die Tür war zu, aber nicht verschlossen, und sie gingen hinein. Die Bar schien noch nicht geöffnet zu sein. Erlendur entdeckte ein Schild, dem zufolge die Bar erst in einer Stunde aufmachte. Sie setzten sich in eine Nische.

»Weihnachten ist im Eimer bei mir«, sagte Elinborg. »Ich hab noch nie so wenig gebacken. Und die ganze Familie meines Mannes kommt heute Abend und …«

»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte Erlendur.

»Was für eine Scheiße«, sagte sie. »Ich verstehe ihn einfach nicht. Ich verstehe ihn überhaupt nicht.«

»Wen?«

»Den Jungen!«, sagte Elinborg. »Ich begreife nicht, was das soll.«

Sie erzählte Erlendur, dass sie gestern Abend, anstatt nach Hause zu gehen und zu backen, noch einmal zur psychiatrischen Klinik gefahren war. Sie wusste nicht ganz genau, warum, aber die Sache mit dem Vater und seinem Sohn ließ sie einfach nicht los. Als Erlendur einwarf, es läge vielleicht daran, dass sie es satt hätte, für ihre angeheiratete Verwandtschaft zu backen und zu kochen, brachte sie nicht einmal ein Lächeln zustande.

Sie war bereits früher in der Klinik gewesen und hatte versucht, mit der Mutter des Jungen zu sprechen, aber zu diesem Zeitpunkt stand die Frau so neben sich, dass sie kein vernünftiges Wort aus ihr herauslocken konnte. Gestern Abend war es genau das Gleiche gewesen. Die Mutter saß da, wiegte den Oberkörper vor und zurück und war völlig weggetreten. Elinborg wusste nicht genau, was sie eigentlich aus ihr herausholen wollte, aber sie ging davon aus, dass die Frau etwas über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wissen könnte, was bislang noch nicht bekannt geworden war.

Sie wusste, dass die Mutter in regelmäßigen Abständen in der Psychiatrie behandelt werden musste. Sie wurde eingeliefert, wenn es ihr gerade mal wieder eingefallen war, ihre Medikamente im Klo hinunterzuspülen. Solange sie unter Psychopharmaka stand, war sie einigermaßen in Ordnung und kümmerte sich vorbildlich um den Haushalt. Auch die Lehrerin des Jungen, mit der Elinborg gesprochen hatte, schien einen guten Eindruck von ihr zu haben.

Elinborg saß im Aufenthaltsraum, wohin die Krankenschwester die Mutter gebracht hatte, und beobachtete die Frau, die sich unentwegt eine Haarsträhne um den Zeigefinger wickelte und etwas vor sich hin murmelte, was Elinborg nicht verstand. Sie versuchte mit ihr zu reden, aber es war, als sei sie überhaupt nicht anwesend. Die Frau zeigte keinerlei Reaktion auf ihre Fragen. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin.

Elinborg saß eine ganze Weile bei ihr, bis ihr wieder all die Plätzchensorten einfielen, die noch nicht gebacken waren.

Sie stand auf, um jemanden zu holen, der die Frau wieder auf ihre Station bringen würde, und traf auf dem Gang einen Aufseher, der um die dreißig zu sein schien und sich dem Aussehen nach in seiner Freizeit mit Gewichtheben beschäftigte. Er trug weiße Hosen und ein weißes T-Shirt, die kräftigen Muskeln spielten bei jeder Bewegung. Der Kopf mit den kurz geschorenen Haaren war rundlich, und die Augen lagen tief. Elinborg fragte ihn nicht nach seinem Namen.

Er folgte ihr in den Aufenthaltsraum.

»Ach, da haben wir ja die liebe Dóra«, sagte der Wärter, ging zu der Frau hin und packte sie am Arm. »Zur Abwechslung mal ruhig heute Abend.«

Die Frau erhob sich genauso apathisch wie zuvor.

»Haben sie dich so gedopt, du Ärmste«, sagte der Wärter, und Elinborg gefiel der Ton nicht. Er schien zu einem fünfjährigen Kind zu sprechen. Und was bedeutete das, dass sie heute Abend zur Abwechslung mal ruhig war? Sie konnte sich nicht zurückhalten.

»Sprich doch nicht mit ihr wie mit einem kleinen Kind«, sagte sie und klang schroffer, als sie eigentlich wollte.

Der Aufseher schaute sie an.

»Geht dich das etwas an?«, fragte er.

»Sie hat genau wie alle anderen das Recht, dass man ihre Menschenwürde respektiert«, sagte Elinborg und verkniff es sich, zu erwähnen, dass sie bei der Kriminalpolizei war.

»Das kann schon sein«, sagte der Wärter. »Ich glaube aber nicht, dass ich sie menschenunwürdig behandle. Na, jetzt komm schon, Dóra«, sagte er und führte die Frau hinaus auf den Korridor.

»Was meinst du damit, dass sie heute Abend zur Abwechslung mal ruhig ist?«

»Ruhig, heute Abend?«, wiederholte der Aufseher und drehte sich zu Elinborg um.

»Du hast gesagt, sie wäre ja geradezu ruhig heute Abend«, sagte Elinborg. »Sollte sie das vielleicht nicht sein?«

»Ich nenne Dóra manchmal The Fugitive«,sagte der Krankenwärter. »Sie reißt immer wieder aus.«

Elinborg verstand ihn nicht.

»Wovon redest du eigentlich?«

»Hast du den Film nicht gesehen?«, sagte der Aufseher.

»Haut sie von hier ab?«, sagte Elinborg. »Aus der Klinik?«

»Oder wenn wir einen Ausflug in die Stadt machen«, erklärte der Aufseher. »Das letzte Mal ist sie beim Ausflug in die Stadt abgehauen. Wir sind halb verrückt geworden auf der Suche nach ihr, aber dann habt ihr sie gefunden und hier auf die Station gebracht. Da habt ihr auch nicht sonderlich darauf Wert gelegt, ihre Menschenwürde zu respektieren.«

»Wir?«

»Ich weiß, dass du von der Polizei bist. Ihr seid nicht gerade sehr zuvorkommend mit ihr umgegangen.«

»Wann war das?«

Er überlegte. Er selber hatte sie und zwei andere Patienten begleitet, als sie am Lækjartorg urplötzlich verschwunden war. Er konnte sich gut erinnern, wann das gewesen war, denn am gleichen Tag hatte er einen persönlichen Rekord im Gewichtheben aufgestellt.