Das Datum stimmte überein mit dem Tag, an dem der Junge misshandelt worden war.
»Wurde ihr Ehemann nicht benachrichtigt, als sie abgehauen war?«, fragte Elinborg.
»Wir wollten ihn gerade anrufen, als ihr sie gefunden habt. Wir geben ihnen immer etwas Zeit, damit sie sich auch von selber wieder einfinden können. Sonst würden wir nur noch am Telefon hängen.«
»Weiß ihr Mann, dass sie bei euch The Fugitive genannt wird?«
»Sie wird nicht bei uns so genannt, sondern nur von mir. Er weiß nichts davon.«
»Weiß er, dass sie manchmal ausreißt?«
»Ich habe ihm nichts gesagt. Sie kommt ja immer wieder zurück.«
»Es ist nicht zu fassen«, sagte Elinborg.
»Man muss sie ganz schön unter Stoff stellen, damit sie nicht abhaut«, sagte der Aufseher.
»Das verändert die ganze Sachlage!«
»Komm jetzt, liebe Dóra«, sagte der Aufseher, und die Tür zur Station schloss sich hinter ihnen.
Elinborg starrte Erlendur an.
»Ich war mir so sicher, dass er es war. Dass es der Vater war. Aber jetzt kann es sein, dass sie sich nach Hause abgesetzt hat, über den Jungen hergefallen und dann wieder abgehauen ist. Wenn doch der dumme Junge endlich seinen Mund aufmachen würde!«
»Weswegen sollte sie ihrem Sohn etwas zuleide tun?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Elinborg. »Vielleicht hört sie Stimmen.«
»Und die gebrochenen Finger und die blauen Flecken? All das, was im Laufe der Jahre passiert ist. War das dann immer sie?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du mit dem Vater gesprochen?«
»Ich komme gerade von ihm.«
»Und?«
»Wir sind natürlich nicht gerade die besten Freunde. Er hat seinen Sohn nicht zu sehen bekommen, seit wir in sein Haus eingedrungen sind und alles auf den Kopf gestellt haben. Er hat jede Menge Verwünschungen für mich auf Lager gehabt und …«
»Was hat er über seine Frau gesagt, über die Mutter?«, unterbrach Erlendur sie ungeduldig. »Er muss sie doch im Verdacht gehabt haben.«
»Der Junge hat nichts gesagt.«
»Außer, dass er sich nach seinem Vater sehnt«, sagte Erlendur.
»Ja, genau. Der Vater findet ihn in seinem Zimmer und glaubt, dass er so aus der Schule nach Hause gekommen ist.«
»Du hast den Jungen im Krankenhaus besucht und gefragt, ob es sein Vater war, der ihn angegriffen hat, und du glaubtest eine Reaktion zu sehen, die dich zu der Überzeugung gebracht hat, dass es der Vater gewesen ist.«
»Ich muss das missverstanden haben«, sagte Elinborg deprimiert. »Ich habe da was in sein Verhalten hineininterpretiert …«
»Aber wir haben nichts in der Hand, was beweist, dass es die Mutter war. Wir haben nichts, was beweist, dass es nicht der Vater war.«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich seine Frau im Krankenhaus besucht und mit ihr gesprochen habe, und dass niemand weiß, was sie an diesem Tag unternommen hat, an dem Tag, als ihr Sohn zusammengeschlagen wurde. Er war völlig perplex. Es schien ihm überhaupt nicht eingefallen zu sein, dass seine Frau aus der Klinik entwischen könnte. Er behauptet immer noch, dass es die Jungs aus der Schule waren. Er sagte, der Junge würde es bestimmt sagen, wenn es seine Mutter gewesen wäre. Er ist davon überzeugt.«
»Warum sagt der Junge denn nicht, dass sie es war?«
»Er steht natürlich unter Schock, der Ärmste. Ich weiß es nicht.«
»Liebe?«, fragte Erlendur. »Trotz allem, was sie ihm angetan hat.«
»Oder Angst«, erwiderte Elinborg. »Vielleicht eine panische Angst davor, dass sie das noch einmal macht. Vielleicht will er seine Mutter durch Schweigen in Schutz nehmen. Keine Ahnung.«
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Sollen wir die Anklage gegen den Vater zurückziehen?«
»Ich werde mal mit der Staatsanwaltschaft reden und hören, was sie dazu meinen.«
»Genau, damit würde ich an deiner Stelle anfangen. Noch was ganz anderes: Hast du die Frau angerufen, die sich, ein paar Tage bevor Guðlaugur ermordet wurde, mit Stefania hier im Hotel getroffen hat?«
»Ja«, sagte Elinborg abwesend. »Die hatte sie gebeten, ihr zuliebe zu lügen, aber im entscheidenden Augenblick brachte sie es nicht über sich.«
»Sollte sie für Stefania lügen?«
»Sie fing damit an, dass sie hier zusammengesessen und Kaffee getrunken hätten, aber dann hat sie wohl Muffensausen gekriegt, oder sie ist eine schlechte Lügnerin, jedenfalls brach sie am Telefon in Tränen aus, als ich ihr sagte, sie müsse aufs Revier kommen, um das zu Protokoll zu geben. Sie sagte, dass Stefania und sie befreundet seien, weil sie zusammen im Musikverein waren. Stefania hätte sie angerufen und sie gebeten auszusagen, dass sie sich hier im Hotel getroffen hätten, falls sie gefragt würde. Sie sagte, dass sie sich zuerst geweigert hätte, doch Stefania hat sie anscheinend mit irgendwas unter Druck gesetzt, aber sie hat mir nicht sagen wollen, mit was.«
»Das war von Anfang an eine miese Lüge«, erklärte Erlendur. »Wir haben es beide gewusst, als ihr das herausgerutscht ist. Ich weiß nicht, warum sie uns so bei der Arbeit behindert, es sei denn, sie hat Schuldgefühle.«
»Meinst du etwa, dass sie ihren Bruder getötet hat?«
»Oder sie weiß, wer es getan hat.«
Sie blieben noch eine Weile sitzen und sprachen über den Jungen und seine Mutter — und die schwierigen häuslichen Verhältnisse. Was Elinborg darauf brachte, Erlendur erneut danach zu fragen, was er an Weihnachten vorhatte.
Er sagte, er und Eva Lind würden am Heiligabend zusammen sein.
Er berichtete Elinborg von seiner Entdeckung im Kellerflur und seinem Verdacht, dass Ösps Bruder etwas mit der Sache zu tun haben könnte, der ins kriminelle Milieu abgerutscht sei und ständig Geld bräuchte. Er bedankte sich bei Elinborg für die Weihnachtseinladung und sagte ihr, sie solle sich doch für die restliche Zeit bis Weihnachten freinehmen.
»Da gibt’s keine restliche Zeit mehr«, sagte Elinborg grinsend und zuckte mit den Achseln. Anscheinend spielten Weihnachten, Hausputz, Plätzchen, Schwiegereltern keine Rolle mehr.
»Kriegst du irgendwelche Weihnachtsgeschenke?«, fragte sie.
»Vielleicht Socken«, sagte Erlendur. »Hoffentlich.«
Er zögerte.
»Lass dir das nicht zu nahe gehen mit dem Vater«, sagte er dann. »So was kann jedem mal passieren. Wir glauben, sicher zu sein, und sind felsenfest überzeugt von etwas, aber dann kommen die Zweifel. Dann, wenn plötzlich neue Fakten ans Licht kommen.«
Elinborg nickte.
Erlendur begleitete sie ins Foyer, wo sie sich verabschiedeten. Er wollte auf sein Zimmer, um seine Sachen zusammenzupacken. Jetzt reichte es mit der Distanz von zu Hause. Er hatte angefangen, seine Bude zu vermissen, wo nichts war. Doch, da waren seine Bücher, sein Sessel — und Eva Lind, auf dem Sofa.
Er stand am Aufzug und wartete, als Ösp auf einmal neben ihm auftauchte.
»Ich habe ihn gefunden«, sagte sie.
»Wen ihn?«, fragte Erlendur. »Deinen Bruder?«
»Komm mit«, sagte Ösp und ging zur Treppe, die in den Keller hinunterführte. Erlendur zögerte. Die Aufzugtür ging auf, und er schaute hinein. Er war dem Mörder auf der Spur. Vielleicht war der Bruder gekommen, um sich auf Anraten der Schwester zu stellen; der Junge mit dem Kautabak. Erlendur war deswegen nicht angespannt. Keine Erregung und Siegesgewissheit, die aufkamen, wenn ein Fall gelöst wurde. Er fühlte sich nur müde und unangenehm berührt, weil dieser Fall alle möglichen Erinnerungen aus seiner Kindheit heraufbeschworen hatte. Ihm war klar geworden, dass in seinem eigenen Leben noch so vieles ins Reine zu bringen war, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. Im Augenblick sehnte er sich danach, die Arbeit hinter sich zu lassen und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um mit Eva Lind zusammen zu sein. Ihr zu helfen, mit den Problemen fertig zu werden, mit denen sie kämpfte. Er wollte damit aufhören, über andere nachzudenken, er wollte über sich selbst nachdenken und seine Nächsten.