»Kommst du nicht?«, fragte Ösp, die an der Treppe stand und auf ihn wartete.
»Ich komme«, sagte Erlendur.
Er folgte ihr die Treppe hinunter in die Kantine, wo er zuerst mit ihr gesprochen hatte. Da drinnen war es immer noch genauso schmutzig. Ösps Bruder saß an einem Tisch und sprang auf, als Erlendur hereinkam. Ösp machte die Tür hinter sich zu.
»Ich habe ihm nichts getan«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ösp sagt, dass du glaubst, ich wärs gewesen, aber ich habe nichts getan. Ich hab ihm nichts getan!«
Er hatte einen schmierigen Parka an, der an der Schulter aufgerissen war, sodass man das Futter sehen konnte. Er trug vor Dreck starrende Jeans und klobige Schnürstiefel bis zu den Waden, Schnürsenkel konnte Erlendur keine entdecken. Zwischen den langen, schmutzigen Fingern hielt er eine Zigarette. Er sog den Rauch tief ein und blies ihn von sich.
Seine Stimme klang erregt, und er tigerte in einer Ecke der Kantine auf und ab, wie ein Tier im Käfig, das in die Enge getrieben wurde von einem Kriminalbeamten, der nur darauf lauerte, ihn zu verhaften.
Erlendur blickte sich um und sah Ösp an der Tür stehen, dann schaute er wieder zu ihrem Bruder hinüber.
»Du scheinst Vertrauen zu deiner Schwester zu haben, sonst wärst du nicht hier.«
»Ich hab nichts getan«, sagte er. »Sie hat gesagt, du wärst in Ordnung und wolltest nur ein paar Informationen.«
»Ich muss wissen, was für ein Verhältnis du zu Guðlaugur gehabt hast«, sagte Erlendur. »Ich habe keine Ahnung, ob du ihn erstochen hast.«
»Ich habe ihn nicht erstochen«, erklärte er.
Erlendur betrachtete ihn. Er befand sich irgendwo im Zwischenstadium zwischen Jugend und Erwachsenendasein, einerseits wirkte er merkwürdig kindlich, aber sein Gesichtsausdruck verriet eine ungeheure Härte und Verbitterung — und eine Wut auf etwas, von dem Erlendur nicht wusste, was es war.
»Niemand sagt, dass du es getan hast«, sagte Erlendur, um ihn zu beruhigen und seine Erregung zu dämpfen. »Wie hast du Guðlaugur kennen gelernt? Was für eine Verbindung war zwischen euch?«
Der Junge sah zu seiner Schwester hinüber, aber Ösp sagte keinen Ton, sondern stand nur stumm an der Tür. Er schaute wieder zu Erlendur.
»Ich habe ihm manchmal einen Gefallen getan, und dafür hat er mich bezahlt«, antwortete er.
»Und wie habt ihr euch kennen gelernt? Wie lange hast du ihn gekannt?«
»Er wusste, dass ich der Bruder von Ösp bin. Er fand es genau wie alle anderen komisch, dass wir Geschwister waren.«
»Wieso das?«
»Ich heiße Reynir.«
»Und? Was ist daran komisch?«
»Ösp und Reynir. Espe und Vogelbeerbaum. Geschwister. Ein Scherz von Papa und Mama. Klingt nach Aufforsten.«
»Was war mit Guðlaugur?«
»Ich habe ihn das erste Mal hier im Hotel gesehen, als ich mich mit Ösp traf. So vor einem halben Jahr.«
»Und?«
»Er wusste, wer ich war. Ösp hatte ihm was von mir erzählt. Sie hat mir manchmal erlaubt, hier im Hotel zu schlafen. Unten im Gang bei ihm.«
Erlendur drehte sich zu Ösp um.
»Du hast da unten in der Ecke ordentlich sauber gemacht«, sagte er.
Ösp schaute ihn an, als verstünde sie nicht, was er meinte, und antwortete ihm nicht. Er wandte sich wieder Reynir zu.
»Er wusste, wer du warst. Du hast auf dem Korridor vor seinem Zimmer geschlafen. Was sonst?«
»Er schuldete mir Geld, aber er sagte, dass er es mir geben würde.«
»Warum hattest du was von ihm zu kriegen?«
»Ich hab ihm manchmal einen Blow-job besorgt und …«
»Und?«
»Ab und zu durfte er mich ficken.«
»Hast du gewusst, dass er schwul war?«
»Was denn sonst?«
»Und das Kondom?«
»Wir haben immer so was benutzt. Da war er total paranoid und wollte nicht das geringste Risiko eingehen. Traute mir nicht, er könne doch nicht wissen, ob ich Aids habe oder nicht. Ich bin nicht infiziert«, sagte er mit Nachdruck und schaute seine Schwester an.
»Und du verwendest Kautabak.«
Er schaute Erlendur verblüfft an.
»Was hat das mit der Sache zu tun?«, fragte er.
»Spielt keine Rolle. Verwendest du Kautabak?«
»Ja.«
»Du warst mit ihm an dem Tag zusammen, als er erstochen wurde?«
»Ja. Er wollte mich treffen, weil er mir das Geld geben wollte.«
»Wie hat er dich erreicht?«
Reynir nahm sein Handy aus der Tasche und hielt es Erlendur hin.
»Als ich kam, zog er sich gerade dieses Weihnachtsmannkostüm an«, sagte er. »Er musste sich beeilen wegen der Weihnachtsfeier. Nachdem er mich bezahlt hatte, schaute er auf die Uhr und hat gesehen, dass er noch Zeit für ein bisschen Fun hatte.«
»Hat er da unten in seiner Kammer viel Geld gehabt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich hab nur das gesehen, was er mir gegeben hat. Er hat aber gesagt, dass er jede Menge Kohle in Aussicht hätte.«
»Von wem?«
»Das weiß ich nicht. Er hat behauptet, er säße auf einer Goldmine.«
»Was hat er damit gemeint?«
»Irgendwas, was er verkaufen wollte. Keine Ahnung, was das war, das hat er mir nicht gesagt. Er sagte bloß, dass er einen Haufen Kohle in Aussicht hätte beziehungsweise sehr viel Geld. Er hätte nie ›einen Haufen Kohle‹ gesagt.
Er hat nicht so geredet. Hat immer richtig vornehm dahergeredet und sich gewählt ausgedrückt. Er war unheimlich höflich. Der Typ war in Ordnung. Hat mir nie was getan und mich immer bezahlt. Da gibt’s Schlimmere als ihn.
Manchmal wollte er auch bloß mit mir reden. Er war einsam, zumindest hat er das selber gesagt. Hat behauptet, er hätte außer mir keinen Freund.«
»Hat er irgendetwas über seine Vergangenheit gesagt?«
»Nein.«
»Nichts darüber, dass er einmal ein Kinderstar gewesen ist?«
»Nein. Kinderstar? Was hat er gemacht?«
»Hast du ein Messer bei ihm gesehen, das aus der Hotelküche hätte sein können?«
»Ja, ich habe ein Messer bei ihm gesehen, aber ich habe keine Ahnung, woher es stammte. Als ich zu ihm kam, hat er damit an seinem Weihnachtsmannkostüm rumgefummelt. Er sagte, dass er für nächstes Jahr ein neues Kostüm brauchen würde.«
»Und hatte er kein Geld bei sich, außer dem, was er dir gegeben hat?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Du hast ihn nicht ausgeraubt?«
»Nein!«
»Hast ihm nicht die halbe Million weggenommen, die in seinem Zimmer war?«
»Eine halbe Million? Hat er ’ne halbe Million gehabt?«
»Soweit ich weiß, brauchst du immer Geld. Das kann man schon daran sehen, dass du anschaffen gehst. Da sind Leute hinter dir her, denen du eine Menge schuldest. Sie haben deiner Familie gedroht …«
Reynir warf seiner Schwester grimmige Blicke zu.
»Guck nicht sie an, sondern mich. Guðlaugur hatte Geld in seinem Zimmer, und zwar viel mehr, als er dir schuldete. Er hatte vielleicht die Goldmine schon angezapft. Du hast das Geld gesehen, und du wolltest mehr. Du hast ihm Gefälligkeiten erwiesen, von denen du glaubtest, dass du mehr dafür kriegen müsstest. Er hat sich geweigert, ihr habt euch gestritten, du hast dir das Messer geschnappt und ihn damit angegriffen, er hat sich so lange gewehrt, bis es dir gelungen ist, ihm das Messer in die Brust zu stoßen und ihn zu töten. Du hast das Geld genommen …«
»Du Scheißkerl!«, zischte Reynir. »So ein verdammter Schwachsinn!«